Der Lockvogel
Ich will nicht mehr weitermachen.
Webster las den Brief noch einmal und ein drittes Mal, während sein Herz heftig gegen seine Rippen schlug. Er las ihn wieder und wieder, aber er gab keine neuen Informationen mehr preis. Dann schaute er sich im Zimmer um, um zu sehen, ob sich noch etwas verändert hatte. Locks Sachen waren an ihrem Platz. Seine alten Schuhe mit den Wasserflecken standen neben der Heizung, das Hemd von gestern hing über der Stuhllehne am Schreibtisch. Das Bett war gemacht und der Nachttisch aufgeräumt worden: auf der einen Seite die beiden Bücher, ordentlich gegen die Wand gelehnt; auf der anderen Seite die beiden Scotch-Flaschen und eine leere Flasche Gin, dicht beisammen. Die Ginflasche war vorher nicht da gewesen, dessen war er sich sicher. Er zog seine Hand in den Ärmel zurück und hob sie am Verschluss hoch. Es war ein kleiner Rest Flüssigkeit am Boden übrig.
Er benutzte einen Kuli zum Wählen und rief die Rezeption an. Frau Werfel nahm ab.
»Frau Werfel, hier spricht Mr. Webster aus Mr. Greens Zimmer. Darf ich Sie fragen, wann Sie während der letzten halben Stunde nicht an der Rezeption gewesen sind? Tut mir leid, aber es könnte wichtig sein.«
Frau Werfel ließ Webster mit einem kleinen Räuspern wissen, dass sie bereits sehr hilfreich gewesen war und ihr diese ganzen Unregelmäßigkeiten langsam auf die Nerven gingen. »Das kann ich nicht genau sagen. Bevor Sie ankamen, war
ich eine halbe Stunde da, glaube ich, weil einige Gäste etwa um halb fünf eingetroffen sind.«
»Und kam noch jemand anderes während dieser halben Stunde?«
»Nein, niemand, Herr Webster. Ist das alles?«
»Das ist alles. Vielen Dank, Frau Werfel.« Er sehnte sich danach, etwas zu tun. Er tat dann das einzig Nützliche und rief die Berliner Polizei an. Er erklärte, dass sein Freund vermisst wurde und er in seinem Hotelzimmer gerade etwas gefunden hatte, das wie ein Abschiedsbrief aussah. Die Polizei fragte ihn, ob er versucht hätte, seinen Freund anzurufen. Ja, natürlich. Ob er irgendeine Ahnung hatte, wo sein Freund hingegangen sein könnte? Nein, keine; und ihm sei klar, dass die Polizei wenige Möglichkeiten habe, aber sie könnte vielleicht Fotos von Richard Lock im Internet finden und an ihre Streifenwagen weiterleiten. Der Polizist schnaubte und sagte Ja, das könnten sie tun.
Er legte auf und schaute aus dem Fenster. Die Straßen unten sahen aus wie vorher. Der Schnee auf den Kühlerhauben zeigte ihm, dass alle Autos in seinem Blickfeld kalt und in letzter Zeit nicht gefahren worden waren. Nichts bewegte sich, abgesehen vom dichten Schneefall; runde Flocken, die wie Regen herunterfielen und manchmal von einem Windstoß durcheinandergewirbelt wurden. Er zog die Vorhänge zu und blieb einen Moment lang einfach stehen, die Hände in den Vorhang gekrallt, die Augen geschlossen. Das durfte nicht noch einmal geschehen.
Er musste mit Hammer sprechen, wollte aber den Raum nicht verlassen für den Fall, dass Lock durch irgendein Wunder trotzdem zurückkehrte. Er ging ein Risiko ein und benutzte das Hoteltelefon auf dem Tisch. Selbst Malins
Leute waren nicht so schnell, dass sie auch dieses schon angezapft haben konnten. Außerdem machte es eigentlich keinen Unterschied. Sollten sie es doch hören.
»Ike, hier ist Ben.«
»Ja?«
»Ich bin im Hotel. Das hier ist keine sichere Leitung. Es gibt einen falschen Abschiedsbrief und eine Flasche Gin, die noch nicht hier war, als wir vor vier oder fünf Stunden das Zimmer verlassen haben.«
»Also gibt es ein Muster.«
»Es gibt ein Muster.«
»Weiß die Polizei Bescheid?«
»Sie wissen, dass er verschwunden ist und an Depressionen leidet.«
»Okay. Ich habe gerade unserem fetten russischen Freund eine Voicemail-Nachricht hinterlassen. Unser liebster Eton-Absolvent hatte eine Telefonnummer. Ich wollte den Klienten noch nicht hineinziehen. Ich weiß nicht, welches von Malins Handys ich da erreicht habe. Ich könnte es bei dem Klienten versuchen, aber ich vermute, er hat keine Nummer, die wir nicht schon haben.«
Webster grunzte seine Zustimmung. »Was ist mit Locks Handy?«
»Das Signal ist tot.«
»Verdammt.« Webster drückte sich mit der freien Hand die Augen zu. »Die Dateien?«
»Die kommen als Nächstes.« Hammer machte eine Pause. »Ich weiß nicht, was wir sonst noch tun können.«
»Es gibt sonst nichts.«
»Sind Sie okay?«
»Nein. Ich habe es satt, Fehler zu machen.«
»Ich habe darüber nachgedacht«, sagte Hammer. »Wann hat Lock
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