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Der Lockvogel

Der Lockvogel

Titel: Der Lockvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Morgan Jones
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aufhört.«
    »Komm nach Hause.«
    »Ich kann nicht. Nicht jetzt. Ich muss das zu Ende bringen.«

    Es war Mittag, und als Lock erwachte, verbreiteten die Strahlen der Sonne etwas Wärme. Webster saß mit geschlossenen Augen auf einer Bank am See, das Gesicht dem Licht zugewandt, die Gedanken in Unordnung. Er hatte diese Bilder nie gesehen. Er nahm an, dass sie aus dem Leichenschauhaus in Öskemen stammten; es hatte keine Autopsie gegeben. Der Brief beunruhigte ihn. Nicht, weil er Elsa Angst machte, obwohl das das Schlimmste daran war, sondern weil er nicht wusste, was er bedeuten sollte. Die E-Mail war eine simple Warnung gewesen; das hier war nicht nur dunkler, sondern auch undeutlicher. Hieß es, dass Malin wusste, was mit Inessa geschehen war? Dass Webster es nie wissen würde? Vielleicht demonstrierte es nur Wissen und Macht. Vielleicht sagte es lediglich: Ich verstehe dich, und ich kenne den Schmerz, den du erlitten hast, und ich kann dir jederzeit mehr davon zufügen.

    Aber der Brief machte ihm keine Angst. Auch nicht der Mann, der ihn geschickt hatte, oder die Leichtigkeit, mit der Webster sich seine toten Augen und seine finstere Entschlossenheit vorstellen konnte, seine unnatürliche Welt, die auf einen winzigen Punkt der Bosheit zusammengeschrumpft war. Zehn Jahre lang hatte er versucht, sich in diesen Geist hineinzuversetzen, und nun, da er mit ihm konfrontiert war, nun, da er glaubte, ihn wiederzuerkennen, hatte sein Schrecken jegliche Kraft verloren. Nein, was ihm Angst machte, war seine eigene Bereitschaft, andere zu korrumpieren und in Gefahr zu bringen. Ohne seine Besessenheit wäre Gerstman noch am Leben, und Lock wäre da, wo er vorher gewesen war – korrumpiert, aber in Sicherheit. Und was ihm noch mehr Angst machte, war, dass er selbst jetzt nicht aufhören konnte. Er hatte immer noch etwas zu erledigen in Deutschland, eine letzte Idee.
    Er hörte Schritte auf dem Kies und schaute auf. Eine Gestalt mit eingefallenem Gesicht kam langsam auf ihn zu.
    »Guten Morgen«, sagte Webster und beschirmte seine Augen gegen die Sonne.
    »Ja, wirklich ein guter Morgen, nicht wahr?«, sagte Lock und sah sich blinzelnd um. Seine Augen waren grau und rot unterlaufen. »Wo sind wir?«
    »Wandlitzer See. Ich habe Sie gestern Abend hierhergebracht.«
    »Nach dem Hotel?«
    »Nach dem Hotel.«
    Keiner sagte etwas.
    »Wie fühlen Sie sich?«
    »Furchtbar. Mein Kopf fühlt sich an wie durch den Fleischwolf gedreht.«

    »Haben Sie Hunger?«
    »Kein bisschen. Ich brauche Luft. Und Wasser.« Lock setzte sich auf die Bank und schlug mit einiger Mühe die Beine übereinander. Er stöhnte. »Was ist passiert?«
    »Ich bekam eins über den Kopf. Sie verschwanden. Vier Stunden später bekomme ich einen Anruf von Ihnen, und Sie sind im Hotel Adlon beim Sicherheitschef des Hauses.« Webster wartete darauf, dass Lock den Rest lieferte, aber er sagte nichts. »Tut mir leid. Ich habe Sie im Stich gelassen. Ich hätte wissen sollen, wie ernst es denen war.«
    Lock nickte leicht. Seine Haut war grau, dunkel unter den Augen. Er schwieg.
    »Sie haben mir gesagt, dass jemand versucht hat, Sie zu vergiften.«
    Lock schaute an Webster vorbei auf den See und schüttelte langsam den Kopf. »Verdammt, ich erinnere mich an kaum etwas. Dieser Kerl, der den Reifen wechselte, dann nichts mehr. Ich erinnere mich an einen Mann mit Schnurrbart, dem ich erzählt habe, dass ich sehr betrunken bin. Und dass ich in einem Hotel war. Lieber Himmel.« Er rieb sich mit dem Handballen die Stirn. »Steckt Malin dahinter?«
    »Ich nehme es an. Eineinhalb Stunden, nachdem Sie Nina angerufen hatten, buchten sich zwei Männer auf den Aeroflot-Nachtflug nach Berlin. Beides Russen. Einer war einunddreißig, der andere fünfunddreißig Jahre alt. Könnten sie das sein?«
    »Sie waren Russen.«
    »Hammer arbeitet daran.«
    Lock nickte schwach. »Haben Sie mich gerettet?«
    »Ich wünschte, es wäre so. Sie haben sich selbst gerettet.«

    Lock lachte, ein schmerzerfülltes Glucksen. »Wirklich? Das ist mal etwas Neues.«
    Webster lächelte und schaute auf seine Hände. »Ich habe Ihnen in der Stadt ein paar Sachen gekauft. Die aus dem Daniel habe ich gar nicht erst organisiert.«
    Lock kratzte sich am Hinterkopf. »Ich fühle mich ein bisschen wie ein Landstreicher.« Er holte tief und bewusst Atem. »Es ist hübsch hier.«
    »Hier sind wir sicher, glaube ich. Die einzige Möglichkeit, uns hier zu finden, wäre, den Taxifahrer aufzutreiben, und dazu würden sie

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