Der Lockvogel
schlaftrunken.
»Hallo.« Hinter seinen Augen schmerzte es. Er erinnerte sich an seinen Kopf.
»Da bist du ja. Warum hast du gestern Abend nicht angerufen?«
Er setzte sich in den Kissen ein wenig auf. Auf dem Laken war ein kleiner Fleck getrocknetes Blut.
»Tut mir leid, Schatz. Ich bin erst spät zurückgekommen. Ich dachte, du würdest schon schlafen.« Durch die Vorhänge konnte er die Sonne sehen. Es musste spät sein.
»Dann schick’ mir eine SMS.« Eine Pause. »Ich habe angerufen, aber es ging die Voicemail an.«
»Das ist komisch.«
»Ich habe mir Sorgen gemacht.«
»Ich weiß. Ich bin ein Idiot. Sorry.«
Keiner sagte etwas. Webster hörte Stimmen im Hintergrund, das Radio. Er hätte anrufen sollen, das war dumm.
Elsa sprach zuerst. »Wann kommst du zurück?«
»Ich wünschte, ich wüsste es. Könnte sein, heute. Vielleicht erst am Dienstag. Ich denke, ich werde es heute wissen.«
»Bist du in Ordnung?«
»Alles okay. Wie geht es euch?«
»Die Kinder spielen oben. Friedlich im Moment.« Elsa war einen Moment lang still. »Du hast einen komischen Brief erhalten. Er ist an Sankt Benedict Webster adressiert, c/o Familie Webster. Er liegt hier und starrt mich an.«
»Wie groß ist er?«
»A4, ein normaler Umschlag.«
»Woher kommt er?«
»Oslo. Gestern abgeschickt.«
»Komisch. Ich weiß nicht, was es sein sollte. Ich schau ihn mir an, wenn ich nach Hause komme.«
»Er gefällt mir nicht. Er ist wie eine nicht explodierte Bombe.«
»Wenn er nicht groß und dick ist, ist es keine Bombe. Du siehst Gespenster.« Er machte eine Pause. »Schick ihn an Ike.«
»Ich würde ihn lieber aufmachen.«
»Okay, ist in Ordnung – mach ihn auf.«
Er hörte, wie sie den Hörer hinlegte. Er fing an, über den Tag nachzudenken. Er musste Gerstmans Dateien durchsehen, mit Hammer reden, mit George reden. Er sollte aufstehen. Die Leitung war immer noch still.
»Was ist es?«
»Oh Gott, Ben. Oh mein Gott.« Ihre Stimme stockte.
»Was ist es? Sag es mir.«
»Ich wusste, dass noch mehr von dieser Scheiße kommen würde. Warum schicken sie das hierher? Wer zum Teufel macht so etwas?«
»Was? Du musst es mir sagen.«
»Es ist …« Elsa holte Luft, riss sich zusammen. »Es ist ein Foto von einer Leiche. Die Leiche einer Frau. Auf einem Tisch. Ihre Kehle ist durchgeschnitten.«
Webster wurde übel. Sein Mund war trocken. Er wollte schreien vor Wut.
»Diese Scheißkerle. Diese verdammten Scheißkerle.« Er stand auf, ging ins Bad und schlug mit der flachen Hand fest
gegen die Wand. Er schaute ins Waschbecken, die Stirn an den Spiegel gelehnt.
»Ich lasse Ike kommen und es abholen. Das solltest du nicht sehen. Es tut mir leid, Schatz. Es tut mir leid.«
»Es ist also Inessa.«
Er selbst konnte das Wort zuerst nicht über die Lippen bringen. »Ja. Sie ist es.« Es war, als hätten sie sie ausgegraben. Um sie noch mehr zu misshandeln. Er machte einen tiefen Atemzug, dann noch einen.
»Bist du okay?«, fragte Elsa.
»Ich bin okay. Ich bin okay.« Mehr Atemzüge. Er durfte sich davon nicht treffen lassen. Er durfte die Scheißkerle nicht an sich heranlassen. »Um dich mache ich mir Sorgen.«
»Da ist noch etwas«, sagte Elsa.
»Was meinst du?«
»In dem Umschlag. Ein Zeitungsausschnitt. Aus der FT . ›Russisches Metallkonsortium notiert in London‹.«
GMK. Generalny Metallurgitscheskij Kombinat. Dem noch immer die Aluminiumfabrik in Kasachstan gehörte, dazu ein Dutzend ähnliche Betriebe in Russland und anderswo. Was hatte das dabei zu suchen? Welche obskure Botschaft war damit verbunden?
»Du musst nach Hause kommen.«
Nicht jetzt. Ganz besonders nicht jetzt. Er seufzte und schloss fest die Augen. »Ich kann nicht.«
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Ich kann nicht. Weißt du, was dieses Schreiben sagt? Dieses Gift? Es sagt, wir kennen dich so gut, Stück für Stück, dass wir mit dir machen können, was wir wollen. Es soll mir Angst machen. Ich soll Panik bekommen. Doch das
wird nicht funktionieren. Es wird verdammt noch mal nicht funktionieren.«
»Mir macht es Angst.«
»Ich weiß, Schatz, ich weiß. Aber glaub mir, sie werden nichts tun. Das hier ist leicht für sie. Sie schicken einfach einen Brief. Es kommt nichts nach. Nichts wird passieren.«
»Sie haben es zu uns nach Hause geschickt.«
»Damit du mich dazu bringst, aufzugeben. Genau wie mit dieser E-Mail. Ich lasse jemanden vor dem Haus postieren.«
»Ich will nur, dass es aufhört.«
»Ich werde dafür sorgen, dass es
Weitere Kostenlose Bücher