Der Lockvogel
gebe Ihnen ein gutes Trinkgeld.« Der Fahrer zuckte mit den Schultern und reichte sein Handy nach hinten.
Hammer hatte ein Gasthaus in Wandlitz gefunden, etwa dreißig Kilometer nördlich von Berlin. Lock schlief, an die Tür des Autos gelehnt. Mit dem auf die Brust hängenden Kopf sah er aus wie eine hölzerne Gliederpuppe, die zusammengesunken auf einem Regal liegt. Webster betrachtete ihn ernüchtert. Das war nicht der Mann, den er verfolgt hatte. Jener Mann war eine Chiffre gewesen, eine Leerstelle, ein Name auf Dokumenten, ein Bild in Zeitschriften, eine Reihe von Annahmen über ihn und seinesgleichen. Dieser Mann hier atmete. Er hatte ein Gewicht und eine Form. Sein Gesicht zeigte, dass er geliebt und gebangt hatte. In dieser kalten Nacht fühlte sich Webster endlich wach.
Der Ort war nicht leicht zu finden, und der Fahrer fuhr zweimal vorbei, bevor Webster das winzige Schild sah, das den Weg zwischen zwei Villen wies. Sie fuhren einen engen,
von kahlen Linden überwachsenen Pfad entlang und hielten vor einem großen weißen Haus, das von zwei Flutlichtscheinwerfern angestrahlt wurde.
Webster stieg aus dem Auto. Es schneite nicht mehr, der Wind war schwächer geworden, und die Luft hier war klar und berauschend, wie Alpenluft. Es fehlten noch ein oder zwei Tage bis zum Vollmond, doch das Mondlicht reichte aus, um jenseits der Flutlichter einen Anlegesteg und ein Segelboot auszumachen, die in glitzerndem grauem Eis erstarrt waren. Eine Sekunde lang verwirrte ihn der Anblick – das konnte nicht das Meer sein. Nein, natürlich; es war einer der Seen. Wandlitzer See. Er hatte davon gehört. Von irgendwo in der Dunkelheit hörte er das ständige Knacken des gefrierenden Wassers an der Eiskante. Rechts von ihm reflektierten mehrere Schichten von weißem Eis am Ufer das Mondlicht in unzähligen glitzernden Lichtpunkten.
Hammer hatte sie telefonisch angekündigt. Was auch immer er erzählt hatte, der Eigentümer der Villa Wandlitz hätte nicht zuvorkommender sein können. Er stellte sich als Herr Maurer vor, nahm die Tasche und half Lock, ins Haus zu gehen, während Webster den Fahrer bezahlte. Als Webster zu einer Erklärung ansetzte, sein Freund sei krank und leide unter Migräne, unterbrach ihn Herr Maurer und sagte, er wisse Bescheid, es sei bedauerlich, und er hoffe, dass Herr Websters Freund sich am nächsten Morgen wieder besser fühlen würde. Er fragte weder nach Kreditkarten noch nach Pässen oder irgendetwas anderem. Stattdessen holte er hinter der Rezeption zwei Schlüssel hervor, führte Webster und Lock zum Aufzug und brachte sie in zwei nebeneinanderliegende Zimmer im ersten Stock. Frühstück gab es von sieben
bis neun, aber wenn sie länger schlafen wollten, würde er gerne auch etwas speziell für sie zubereiten. Er schien Websters verschmutzte Kleidung und das getrocknete Blut an seiner Schläfe überhaupt nicht zu bemerken. Webster dankte ihm und sagte Gute Nacht.
Er zog Locks Mantel aus und hängte ihn über einen Stuhl. Der Mantel verströmte einen leichten Geruch nach Erbrochenem, den er vorher nicht wahrgenommen hatte. Er führte den schlurfenden Lock hinüber an die Seite des Doppelbetts, drehte ihn um und ließ ihn auf die Matratze sacken. Er legte seine Beine hoch, zog ihm die Schuhe aus und deckte ihn zu.
»Wollen Sie etwas Wasser?«
Mit geschlossenen Augen runzelte Lock die Stirn und schüttelte den Kopf. Webster füllte im Badezimmer ein Glas mit Wasser und stellte es auf den Nachttisch. Er ließ das Licht im Bad an und die Verbindungstür zwischen ihren Zimmern offen.
Einige Zeit saß er in seinem Zimmer im Dunkeln und schaute aus dem Fenster auf den Mond und den See. Eigentlich sollte er hinuntergehen, Herrn Maurer bitten, den Computer benutzen zu dürfen, und sich Gerstmans Dateien ansehen. Er sollte Hammer anrufen. Er sollte Elsa anrufen. Vor allem aber sollte er sich überlegen, wie man diese Sache zu einem guten Ende führen konnte. Er war sicher, dass es einen Weg gab, der in seinem Kopf langsam Gestalt anzunehmen begann.
Er schaute zu Lock hinüber. Was ging ihm gerade durch den Kopf? Wenn er Glück hatte, irgendein Unsinn. Oder gar nichts. Im Bad inspizierte er seine Wunde. Ein Fleck zusammengeklebtes braunes Haar verriet die Stelle, ansonsten
konnte man es leicht übersehen. Es hatte Zeit bis morgen, ebenso wie alles andere.
Elsa weckte ihn auf. In seinen Träumen breitete sich langsam das Summen seines Handys aus, das über den Nachttisch wanderte. Er antwortete
Weitere Kostenlose Bücher