Der Lockvogel
mehr Meetings musste er absolvieren, außerdem ging Vika um acht ins Bett, gerade wenn sein Arbeitstag normalerweise endete. Heute aber, als er sich auf den Weg von seinem Hotel zum Holland Park
machte, um sie zu besuchen, waren seine üblichen Bedenken mit Schuldbewusstsein versetzt, während Szenen seines Riviera-Aufenthalts vor seinem inneren Auge abliefen.
Er hatte seinen Fahrer weggeschickt und war, um nach dem morgendlichen Flug seinen Rücken zu strecken, zu Fuß durch den Hyde Park gegangen, froh, den August und Monaco hinter sich zu lassen. Die letzten vier Tage dort waren ungemütlich gewesen: Er war reizbar, Oksana mürrisch. Er hatte ihr sagen wollen, was ihn bedrückte, doch er wusste, dass er das nicht konnte; sie hatte seine Nervosität als Misstrauen ihr gegenüber gedeutet. Es war heiß gewesen, ein Gewitter lag in der Luft. Monaco war ihm zu eng geworden, und Ausflüge nach Cannes und in die Berge um Grasse herum hatten keinerlei Entspannung gebracht. Das Gewitter blieb aus. Er hatte sich erleichtert gefühlt, als Oksana schließlich ihr Flugzeug bestieg, und zweifellos war es ihr ebenso ergangen. Zehn Tage in Monaco zu verbringen, war definitiv zu viel – vielleicht auch nur zu viel, um sie mit jemandem wie mir zu verbringen, dachte er.
Der Hyde Park war grün, lebendig, alt, voller Touristen. Um fünf Uhr stand die Sonne noch hoch, und Lock, in Hemdsärmeln und mit der Jacke über der Schulter, lief gemächlich am Mosaik des Reformers’ Tree Memorial und dem Old Police House vorbei über die Serpentine Bridge, in Richtung Kensington Palace. Er liebte London aus Gründen, die er nur teilweise verstand, und die etwas mit dem Selbstbewusstsein dieser Stadt zu tun hatten: London gab nie vor, etwas zu sein, das es nicht war.
Er ging zum ersten Mal zu Fuß zu ihrer Wohnung; langsam, erwartungsvoll und zögerlich zugleich. Er fragte sich, welche Marina ihn empfangen würde: die Romantikerin,
die sich immer noch bemühte, ihre gescheiterten Hoffnungen zu verbergen, oder die kühle Rationalistin, die schon lange vor ihm verstanden hatte, dass sie scheitern mussten. Es war dieser innere Konflikt, den er an ihr liebte, und genau wegen dieses Konflikts hatte er auch Angst vor dem Wiedersehen: In ihrer Gesellschaft fühlte er sich entweder wie ein Mistkerl oder wie ein Verräter.
Sie hatten sich bald nach Locks Ankunft in Moskau kennengelernt. Sie war Anwältin – sie arbeitete im Moskauer Rathaus und verkaufte Staatsgrundstücke an Privatinvestoren – und Malins Patenkind. Malin war es, der sie einander vorstellte, er lud sie zu einem kleinen Essen in seine Datscha ein, wo er demonstrativ den Ehestifter spielte, was ihnen beiden sehr peinlich war. Später gab es Momente, in denen sich Lock fragte, ob das von vornherein Teil seines großen Plans gewesen war.
Damals hatte Lock zunächst über sechs Monate lang das Leben eines Expatriaten in einer Stadt geführt, die ihn vollkommen faszinierte, und nun fand er sich plötzlich auf dem russischen Land wieder. Es war Frühling, und die tiefstehende Sonne ließ die hellen jungen Blätter der Erlen und Weißbirken hervortreten. Als er Marina zum ersten Mal sah, spazierte sie mit Jekaterina Malin durch einen Hain von Apfelbäumen, und er dachte sofort, dass sie selbst an diesem Ort die Welt um sie herum überstrahlte. Sie war schmal und blond, mit klarer, weißer Haut und einer kleinen Nase, die ein wenig nach oben gebogen war. Ihre Augen waren grün, ebenmäßig und hell wie Peridot-Edelsteine.
In dieser Nacht sprachen sie über Russland. Lock war noch nie zuvor von einem Russen nach Hause eingeladen worden, und man gab ihm zu verstehen, dass es sich um
eine Ehre handelte, die nur wenigen zuteilwurde. Die Russen, so sagte man ihm, seien von Natur aus ein offenes und freundliches Volk, doch ihre jüngere Geschichte – vielleicht auch ihre gesamte Geschichte – habe dazu geführt, dass sie länger zögerten, Freundschaften zu schließen, als sie vielleicht wollten. Lock hatte die Vermutung geäußert, dass sich Russland, das nun zum ersten Mal demokratisch war, auf eine Erwärmung seiner Beziehungen freuen konnte, sowohl auf diplomatischer wie auch auf persönlicher Ebene. Einer der anderen Gäste, ein Arzt und alter Freund von Jekaterina, dankte Lock für seine wohlmeinenden Worte, befürchtete aber, dass es mehr brauchen würde, um diese zerbrochene Nation zu reparieren, die gezeichnet war durch die jahrhundertelange Grausamkeit von Herrschern, die sie
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