Der Lockvogel
wichtige Pflicht zu erfüllen: Maria Sergejewna ihr Geburtstagsgeschenk zu überreichen.« Damit fuhr er seiner Tochter durch die Haare, wobei das Diadem leicht verrutschte. Die weiter hinten Stehenden reckten ihre Hälse, um ihr erwartungsvolles Gesicht sehen zu können.
In der Hinterwand der Bühne öffnete sich eine Tür, und
ein als Zirkusdirektor gekleideter Mann trat heraus. Er hielt ein dickes Seil in der Hand, an dessen Ende ein gut zwei Meter langes Krokodil in der Türöffnung auftauchte und mit bedächtigen Schritten seiner abgewinkelten Beine vorwärtstapste. Die Gäste in den ersten Reihen schnappten nach Luft, und mehrere Menschen wichen unwillkürlich ein Stück zurück. Lock sah zu, wie der Zirkusdirektor und das Krokodil die Bühne betraten und der Direktor das Seil an Galinin weiterreichte.
»Aus Asien, ein Biest für meine Schöne!«, rief Galinin der Menge zu, ohne vom Mikrofon Gebrauch zu machen. »Sein Name ist Gena! Wie findest du ihn, mein Schätzchen?« Maria schaute das Tier mit einer Mischung aus Angst und Entzücken an. »Keine Sorge. Er wird dir nichts tun. Er ist noch jung.« Er hielt Maria das Seil hin, doch sie zögerte und suchte in seinen Augen nach Bestätigung; dann drehte sie sich abrupt um und presste ihr Gesicht in das Kleid ihrer Mutter. Einige Gäste lachten, ebenso wie Galinin, der wieder das Mikrofon nahm. »Es geht schon in Ordnung, dass die Prinzessin Angst vor ihrem Biest hat. Du musst keine Angst haben, mein Schätzchen, er wird bei uns wohnen, und ihr werdet einander kennenlernen. Gibt es hier einen Mann, der mutig genug ist, mit Gena zu ringen?« Er lachte, und seine Gäste folgten nervös seinem Beispiel. »Tut mir leid, Gena, keine Kandidaten heute. Trotzdem danke. Sag deinen Freunden auf Wiedersehen.« Zu erneutem Applaus führte der Zirkusdirektor das Krokodil die Stufen hinunter und hinaus.
»Und jetzt«, sagte Galinin und klatschte in die Hände, »lasst das Fest beginnen! Ich wünsche euch allen viel Spaß!« Unter erneutem Applaus kniete er neben Maria nieder, nahm sie in die Arme und gab ihr auf jede Wange einen
gefühlvollen Kuss. Während das Publikum sich zerstreute, sah Lock, wie das kleine Mädchen mit roten Augen, aber ohne zu weinen, seinen Vater umarmte und sich von ihm zum Lachen bringen ließ.
»Dreißig Minuten«, sagte er zu Oksana, »höchstens. Lass mich nur schnell Sergej gratulieren.«
»Ist sie ihr einziges Kind?«, fragte Oksana, die immer noch die Bühne im Blick hatte.
»Ich glaube schon, ja. Warum?«
»Ich frage mich, was sie ihr nächstes Jahr schenken werden. Ich hole etwas zu essen.«
Lock schaute ihr nach. Inzwischen hatte sich eine Menschentraube um Galinin gebildet. Er nahm sich einen Drink und wartete am Rand der Gruppe, als würde er Schlange stehen.
Eines Tages würde er eine Rede für Vika halten, vielleicht an ihrem achtzehnten Geburtstag, vielleicht auch auf ihrer Hochzeit: eine kurze, perfekte Rede, mit der er ihr sagte, wie stolz er auf sie war und wie sehr er sie liebte. Bei ihrer letzten Geburtstagsfeier – nein, bei ihrer vorletzten, der letzten, bei der es ihm gelungen war zu kommen – hatte er in einem Raum voller schreiender, in Partykleider gehüllter Mädchen gestanden und sich steif und verloren gefühlt. Er hatte mit anderen Eltern gestelzte Unterhaltungen geführt, während Vika brennend vor Aufregung einem Zauberer zuschaute, der Tauben aus einem Samtbeutel erscheinen ließ. Sie wurde an diesem Tag sieben, und Lock hatte ihr einen wunderschönen Wintermantel gekauft, von dem Marina gesagt hatte, dass er ihr gefallen würde. Als er das nächste Mal nach London kam, war schon Frühling gewesen, und er hatte sie nie darin gesehen.
Jemand berührte ihn am Arm und fragte, ob Konstantin auch auf der Party sei. Nein, sagte Lock; dringende Geschäfte im Ministerium. Die Wahrheit war, dass Malin keine Partys mochte, schon gar nicht Partys von Leuten, die nicht wirklich wichtig waren. Er zog es vor, in der Öffentlichkeit Distanz zu seinen Geschäftspartnern zu wahren. Aus diesem Grund war Lock hier: um an Malins Stelle seine Aufwartung zu machen. Er und der Russe, der ihn angesprochen hatte, ein Manager eines Ölunternehmens, redeten eine Zeit lang über die Industrie, wobei Lock aus den Augenwinkeln sein Ziel weiter beobachtete. Doch egal, wie sehr sich Galinin mit jedem seiner Gäste beeilte, die Schlange schien nicht kürzer zu werden, weil wichtige Russen – und auch einige unverschämte – einfach ohne
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