Der Lockvogel
im Park von Den Haag, und Locks Vater zeigte seinem Sohn, wie man takelte, Wendemanöver ausführte und wie man ein echtes Boot gegen den Wind segelte. »Eines Tages werden wir das wirklich machen, und du kannst an der Pinne stehen«, sagte er. Lock hatte das Boot geliebt. Wenn es nicht im Wasser schwamm, stand es auf einem Regal in seinem Zimmer und ließ ihn von großartigen Seeabenteuern träumen. Doch als es so weit war, hatte das Meer keine Anziehungskraft
für ihn. Wo er Abenteuer erwartet hatte, gab es stattdessen lange Nachmittage, an denen er ungeschickt den Kommandos seines Vaters folgte; wo er Einsamkeit und Ruhe erwartet hatte, gab es nur das ohrenbetäubende Tosen des Windes und das wütende Knallen der Segel. Er entdeckte, dass das Meer ihm Angst machte, und wurde unter den ungeduldigen Anweisungen seines Vaters immer nervöser, wenn er in der Nähe des Meeres war. Irgendwann gingen sie kaum noch hinaus, und Everhart Lock hatte niemals verstanden, dass die Enttäuschung seines Sohnes mindestens ebenso groß war wie seine eigene.
Jetzt sah Lock seinen Vater nurmehr selten – seit dem Tod der Mutter vielleicht einmal im Jahr. Er besuchte ihn im Sommer mit Vika, und sie gingen zu dritt an den Strand. Vika spielte in den Dünen, und die beiden Männer redeten über sie und kaum etwas anderes. Oft saßen sie still dort, in dem schweigenden Einvernehmen, weder über Arbeit noch über Russland noch über Familie zu sprechen. Jede Erwähnung von Locks Leben brachte sofort Everharts Missbilligung zum Vorschein, leidenschaftlich und streng zugleich, wie ein Fels, der vor Hitze glüht. So saßen sie Seite an Seite und beobachteten still das Meer, das schon so lange zwischen ihnen lag.
Eine schriftliche Einladung hatte Lock aufgefordert, am Freitagabend um sechs Uhr zu einer Teeparty ins Hyatt Ararat zu kommen. Er war mit Oksana zwanzig Minuten später eingetroffen und hatte nur acht weitere Gäste vorgefunden, alles Paare, alles, wie Lock mit einem Blick sah, Geschäftsleute mit ihren Frauen. Er hatte angenommen, dass sie pünktlicher als üblich sein sollten, weil es sich um einen Kindergeburtstag handelte, doch damit hatte er eindeutig
falschgelegen. Vielleicht sollten sie wieder gehen und in einer Stunde zurückkehren. Eine Bedienung in rosa Schürze und passendem Häubchen näherte sich mit einem Tablett voller zierlicher Teegläser, die vor Kälte beschlagen waren.
»Tee-Cocktail«, sagte sie und bot ihnen das Tablett an.
»Danke«, sagte Lock, nahm zwei Gläser und gab eines davon Oksana, die ein dünnes silbernes Kleid und turmhohe silberne Schuhe trug. Sie nahm es und trank unbeeindruckt, wobei sie sich kühl im Saal umblickte.
»Dieser Raum sieht umwerfend aus«, sagte er zu ihr und nahm dankbar einen großen Schluck seines Drinks. Er war gut: Wodka, dachte er, mit Bergamotte und etwas anderem, das er nicht genau identifizieren konnte. Oksana gab keine Antwort.
Der Ballsaal, normalerweise ein einziger riesiger Raum, war zu einem Wald von versilberten Birkenzweigen geworden, arrangiert zu durchsichtigen Trennwänden, die luftige Räume entstehen ließen. Im ersten und größten waren reich verzierte Samoware auf Tischen aufgestellt und um sie herum Diwane, die mit rosafarbenen und silbernen Stoffen behängt waren. Auf jedem Samowar befand sich ein Schild, das in silbernen Buchstaben den Inhalt bekanntgab: schwarzer Tee, Eistee, Apfelsaft, heiße Schokolade, Erdbeermilch, Kwass. Lebende Statuen in aufwändiger Ballkleidung in Rosa und Silber standen bereits regungslos an den Wänden. Die Decke war abgesenkt worden und bestand nun aus altrosafarbenem Stoff, der von Dutzenden herabhängenden Kronleuchtern erhellt wurde. In einem Raum zur Linken konnte Lock durch die Zweige hindurch Pyramiden von kleinen Törtchen in allen erdenklichen Farben erkennen; vor ihm gurgelten dickflüssig zwei Schokoladenbrunnen,
einer in Braun, der andere in Pink. Am entgegengesetzten Ende des Raums entdeckte er eine Art Tassenkarussell, und neben ihm spielte eine Band in silberfarbenen Anzügen gedämpft Jazz. Er dachte daran, dass seine Geburtstagsfeiern als Kind ganz anders gewesen waren, und gleichzeitig, dass man nirgendwo sonst auf der Welt so etwas zu sehen bekam.
Er und Oksana sollten wirklich besser für eine Stunde in der Hotelbar verschwinden. Es trafen beständig, aber langsam, weitere Gäste ein, und Lock mochte in dieser Stimmung nicht mit Oksana Smalltalk machen. Gerade als er ihr vorschlagen wollte, mit ihm
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