Der Lockvogel
die er in den Paradiesen dieser Welt damit verbrachte, der Steuer und der Verantwortung aus dem Weg zu gehen. St. Nevis, Vanuatu, Grand Cayman, Mauritius – das verstreute Archipel seines flüchtigen Halblebens. Oder vielleicht war es nur der Kontrast. Selbst jetzt, an einem frischen Oktoberabend, wirkte Moskau kalt, die Luft irgendwie gleichzeitig dick und dünn, durch die Wolken von einem gelblich grauen Licht erleuchtet, das für Lock die Farbe der Verseuchung hatte. Es nieselte leicht, und endlich wurde ihm klar, dass Moskau sich genau so anfühlen sollte – ungemütlich und beklemmend. So empfanden es die meisten Menschen. Die Szene im Ballsaal unter ihm war untypisch, und er tat gut daran, das nicht zu vergessen. Er gehörte nicht dazu. Zerquetscht. Beresford hatte recht. Er fing an, es zu spüren.
Das Wochenende war hell und warm, wie ein Nachklang des Septembers, doch Lock verbrachte den größten Teil davon in seinem Apartment. Der Artikel in der Times erschien
am Samstag, wie Hewson gesagt hatte. Lock und Oksana hatten die Party der Galinins verlassen und waren essen gegangen, wobei Lock trotz seiner Bemühungen, sich zu entspannen, mit seinen Gedanken anderswo war. Oksana hatte ihm ausgiebig erklärt, dass sie Rauchen widerlich fand und er sich so bei ihr durchaus nicht beliebt machte. Sie waren kurz vor Mitternacht in sein Apartment zurückgekehrt, und auf dem Weg dorthin hatte Lock Malin angerufen und ihm von dem Artikel erzählt, der am nächsten Tag zu erwarten war. Malin hatte ihm lediglich gedankt und ihn daran erinnert, dass baldige Ergebnisse der in Auftrag gegebenen Nachforschungen nützlich wären; dann hatte er aufgelegt. Oksana war wortlos zu Bett gegangen, während Lock in seinem Büro mit seinem Laptop wachblieb, stundenlang die Webseite der Times anstarrte und darauf wartete, dass der Artikel erschien. Marina würde ihn zweifellos sehen. Er fragte sich, wer sonst noch. Sein Vater vielleicht, allerdings nur, wenn die holländischen Zeitungen die Geschichte aufgriffen.
Gegen drei Uhr morgens aktualisierte er die Seite erneut, und da stand es an prominenter Stelle im Wirtschaftsteil: »Russischer Energie-Zar der Korruption beschuldigt«. Der Artikel befasste sich praktisch ausschließlich mit dem Prozess, berichtete ziemlich detailliert über Tournas Klage, skizzierte jedoch auch die Hauptbeteiligten. Malin wurde unter anderem als »schattenhafte, aber mächtige Präsenz im Ministerium für Industrie und Energie« beschrieben; Lock war ein »anglo-holländischer Anwalt, der seit den Neunzigerjahren in Moskau arbeitet und … mit Faringdon Holdings Ltd. in Verbindung steht, einem irischen Unternehmen, das große Anteile an russischen Energieunternehmen hält.«
Malin habe nicht für eine Stellungnahme zur Verfügung gestanden, während Lock »sich gestern Abend weigerte, einen Kommentar abzugeben«. Tourna war – nicht überraschend – gesprächiger gewesen. Einen Moment lang fragte sich Lock, ob man eine Verleumdungsklage gegen ihn anstrengen konnte – bevor ihm klar wurde, was das nach sich ziehen würde.
Er las den Artikel dreimal durch. Es waren keine eigenen Recherchen darin zu finden: Hewson hatte die New Yorker Klage beschrieben und Tourna erlaubt, ein paar saftige Bemerkungen beizusteuern. Das Verfahren in Paris wurde nicht einmal erwähnt, und es gab keinerlei Analysen der Konzernstruktur von Faringdon – tatsächlich gab es nicht den Hauch einer Bewertung, ob die Klage Tournas berechtigt war. Doch was Lock beunruhigte, war genau die Tatsache, dass der Artikel so wenig aussagte. Warum war er gedruckt worden, wenn nicht noch mehr nachkam? Die PR-Leute würden ihm ohne Zweifel versichern, dass der Trick nun darin bestand, dafür zu sorgen, dass es Hewson langweilig wurde und er nicht in Versuchung geriet, weitere Storys zu schreiben – ein ausgesprochen erstrebenswerter Trick, falls er denn funktionierte. Es war gut möglich, dass nichts mehr nachkam – schließlich hatten schon einige Male Geschichten über russische Korruption in der britischen Presse gestanden, nur um dann kurze Zeit später wieder einzuschlafen. Korruption in Russland war alles andere als neu. Er ging ins Bett, noch nicht völlig beruhigt.
Als er am Morgen erwachte, war Oksana gegangen. Sie hatte ihm eine Notiz hinterlassen, auf der einfach stand: »Bitte hör auf, dir Sorgen zu machen. Es ist nicht gut für dich, und ich mag dich lieber, wenn du es nicht tust.«
Er lächelte beim Lesen ihrer Zeilen. Er
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