Der Lockvogel
und fragte sich, was er an diesem Tag tun sollte. Oksana war am Abend beschäftigt, hatte sie ihm gesagt; sie müsse an ihrer Dissertation arbeiten. Wahrscheinlich stimmte das sogar, überlegte Lock, und falls nicht, nähme er es einfach hin. Er war nicht eifersüchtig auf sie, in erster Linie vermutlich, weil er sie sowieso nur als Leihgabe hatte. Wenn sie ihren Doktortitel in der Tasche hatte, würde sie seine Unterstützung nicht mehr brauchen und gehen. Es war ein zivilisiertes Arrangement, und er hatte niemals das Bedürfnis verspürt, es unzivilisiert zu machen, indem er mehr von ihr verlangte als das, was sie stillschweigend vereinbart hatten.
Also würde er sie zwei oder drei Tage lang nicht sehen, und Wochenenden in Moskau ohne Oksana waren schwierig. Er könnte im Ismailowoer Park spazieren gehen oder eines der Badehäuser besuchen oder im Starlite ein langes Mittagessen mit anderen einsamen Engländern oder Amerikanern einnehmen, das sich bis zum Abendessen hinzog und damit endete, dass man betrunken in irgendeinem beliebigen Nachtclub herumstolperte, der in dieser Woche gerade angesagter war als seine Konkurrenten.
Schlussendlich saß er in seiner Wohnung und las jeden Eintrag, den er von sich selbst im Internet finden konnte, immer in der ängstlichen Erwartung, auf etwas zu stoßen, das er noch nicht kannte. Zwölftausend Treffer. Es überraschte ihn, dass es so viele waren. In einigen sich wiederholenden Meldungen ging es um ihn und seine Deals, Akquisitionen und Transaktionen. In anderen ging es um Richard Lock, den sozial engagierten Unternehmer, manche handelten auch von Richard Lock, dem Singer-Songwriter aus Montana. Selbst nachdem er ziemlich sicher war, dass er jede ihn betreffende Erwähnung seines Namens gelesen hatte, suchte er weiter, in der morbiden Erwartung, doch noch den einen Artikel zu finden, der ihn als Betrüger, als Strohmann, als Geldwäscher entlarvte. Schließlich hatte er das Ende der Liste erreicht, und es war draußen dunkel geworden. Er fühlte sich erleichtert, aber immer noch angespannt, als hätte er einen Gesundheits-Check gemacht, der sich nur mit Symptomen und nicht mit Ursachen befasste.
An diesem Abend ließ er sich eine Pizza bringen und trank Scotch vor dem Fernseher. Gegen elf Uhr rauchte er seine letzte Zigarette.
Am Sonntagmorgen überprüfte er die Zeitungsmeldungen.
Reuters hatte die Story aufgegriffen, und er fand kleine Artikel in der kanadischen Globe and Mail , im Observer und verblüffenderweise im Hong Kong Standard . In keinem davon stand etwas Neues. Er dachte, dass er seinen Geschäftsfreunden überall auf der Welt Bescheid geben sollte, damit sie es von ihm hörten und nicht von jemand anderem. Später. Das konnte er morgen erledigen.
Er ging ins Fitnesscenter, verfluchte die Enge in seinen Lungen und schaffte ein kurzes, steifes Laufen und zwanzig Minuten auf dem Ergometer, bevor er es gut sein ließ und die Sauna aufsuchte.
Hinterher ging er ins Radisson-Hotel in der Twerskaja-Straße zum Essen, wo die Ausländer sich meistens versammelten. Gegen vier verabschiedete er sich aus der Gruppe, machte sich auf den Nachhauseweg und fragte sich, wann er den Spaß an Tagen wie diesem verloren hatte.
Am Montag um ein Uhr traf sich Lock mit Mikkel Friis, seinem Partner beim Restaurant-Projekt. Lock hatte schon seit Langem den Wunsch, in Moskau ein Restaurant zu besitzen. Er glaubte, das würde ihm die Art von sichtbarem Ruhm verleihen, die seiner Alltagsposition abging. Es war seine Idee gewesen, inspiriert durch einen Trip, den er mit Oksana nach Istanbul unternommen hatte. Es sollte das beste türkische Restaurant Moskaus werden; üppig und dunkel, exklusiv und opulent osmanisch. Die Renovierungsarbeiten hatten bereits begonnen, sie hatten einen Chefkoch, Teppiche und Möbel waren aus der Türkei selbst importiert worden, und sie hatten einen Namen, der Lock gefiel: Dolmabahce. Heute aßen er und Friis, ein junger Däne, der früh ein Vermögen mit Private Equity gemacht hatte, beim
gegenwärtigen Inhaber der Zeitgeist-Krone, in einem überaus hochglanzpolierten Restaurant mit einer Speisekarte, die eine »Fusion« der Küchen aus einem Dutzend Länder war, um zu sehen, was sie noch lernen konnten.
Lock, der den Morgen damit verbracht hatte, beruhigende E-Mails an alle seine Kontakte in der Offshore-Welt zu senden, kam zu spät. Er entschuldigte sich, als er sich, leicht außer Atem, auf seinen Stuhl fallen ließ.
»Ist schon in Ordnung«, sagte
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