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Der Lockvogel

Der Lockvogel

Titel: Der Lockvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Morgan Jones
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hielten.
    Webster dachte an den Typus Mann – es waren immer Männer –, der seine Identität verkaufte, um die Identität eines anderen zu schützen. In jedem größeren Projekt tauchten diese Männer auf, bildeten die erste Verteidigungslinie, oft nur unzureichend für den Kampf gerüstet. Sie waren Geschäftsleute, ausnahmslos zweitklassige Anwälte und Buchhalter, deren frühere Karrieren die Vermutung nahelegten, dass sie nie auf dem Weg an die Spitze gewesen waren. Einige begannen jung, andere in mittleren Jahren. In Websters
Welt gab es Legionen von ihnen, sie stammten aus aller Herren Länder und operierten in winzigen Büros in London, Dubai, Genf oder New York, gründeten Unternehmen, lösten sie wieder auf, hantierten endlos mit Geld herum. Was bekamen sie für dieses unnatürliche, unkündbare Arrangement? Nach Websters Erfahrung gab es drei Motive, die normalerweise miteinander verflochten waren. Da war zunächst das Geld – leicht verdientes Geld. Wenn man seine Immobilien und seinen Lebensstil zum Maßstab nahm, musste Lock zehn, vielleicht auch zwanzig Millionen schwer sein, und was tat er dafür, wenn man es recht betrachtete? Unternehmen verwalten. Ferner hatte er ein gesichertes Einkommen, denn dies war immer ein Job auf Lebenszeit – man konnte ebenso wenig aussteigen wie der Klient. Und außerdem verhieß es Macht. Oder genauer gesagt, die Nähe zur Macht. Das war allen diesen Männern gemeinsam: der Irrglaube, dass beim Arbeiten für einen großen Mann etwas von dessen Rang an einem selbst haften blieb.

    Onders Büro befand sich in den engen Straßen am Shepherd Market in Mayfair. Seltsame Läden konnten sich hier halten: italienische Herrenausstatter, die hellblaue Schuhe und senffarbene Lederjacketts verkauften, an wen, war Webster unbegreiflich; winzige Beauty-Salons, die französische Pediküre und Elektrolyse anboten; ein Spielzeugladen, der nur Spielzeugsoldaten führte, jeder einzelne von ihnen in historisch exakter Uniform. Webster fand Onders schäbige rote Tür neben einem Blumenladen, drückte auf die Klingel und wurde eingelassen.
    Er stieg eine Treppe hinauf, und Onder selbst begrüßte ihn auf dem ersten Treppenabsatz. Hammer hatte einmal
über Onder gesagt, seine Größe sei »in jeder Hinsicht« seine beste Eigenschaft. Er war ein großer Mann, vielleicht einen Meter neunzig, mit breiter Brust, seine Hand umfasste Websters Hand vollständig, als sie sich mit Handschlag begrüßten. Was Hammer aber gemeint hatte, war, dass Onders Handlungen und sein Charakter groß waren: Er hatte eine laute Stimme, seine Großzügigkeit war spontan, er beging seine Verfehlungen aus vollem Herzen. Er trug einen hellgrauen Anzug, der fast silbern aussah, und dazu eine hellrosa Krawatte. Webster freute sich, ihn zu sehen. In seiner Gesellschaft erinnerte er sich lebhaft daran, was für eine seltene Kombination Onder verkörperte: ein Händler, der es gewohnt war, in jedem Moment Dutzende von komplexen Berechnungen anzustellen, der aber dennoch wirklich denken und vorausplanen und, wenn nötig, große Weisheit an den Tag legen konnte.
    »Benedict!«, sagte Onder mit der klaren Diktion eines Schauspielers und lächelte breit. »Wie schön, Sie zu sehen. Bitte, bitte, treten Sie ein.« Eine der seltsameren Tatsachen bei diesem ungewöhnlichen Mann war, dass er als Sechzehnjähriger mit seiner Familie nach England gekommen war und seine letzten beiden Schuljahre in Eton verbracht hatte. Das hatte ihm eine gewisse Vornehmheit verliehen, die vierzig Jahre später altmodisch, wenn nicht gar herrschaftlich wirkte.
    Er führte Webster durch einen verblichenen Empfangsbereich zu seinem Büro im hinteren Teil des Gebäudes. Sie begegneten niemandem auf ihrem Weg dorthin. Onders Büro war groß und hell, aber schäbig. Es standen zu viele Möbel darin: drei Schreibtische mit hölzernen Tischplatten, deren Lack spröde und abgestoßen war, vier stumpfgraue
Aktenschränke, überall Stühle, einige davon an der Wand aufgestapelt. Nur die Telefone und Computer ließen ahnen, dass sich seit 1970 viel verändert hatte. Ein Erkerfenster, dessen untere Scheiben aus Milchglas waren, blickte auf eine Front grauer Häuserrücken.
    »Ich entschuldige mich für diese Umgebung, Benedict. Bitte, setzen Sie sich. Wie Sie wissen, mache ich mir nichts aus schicken Büroräumen.«
    Webster setzte sich auf den größten der drei Stühle, die vor Onders Schreibtisch aufgereiht waren. »Istanbul ist ein wenig schicker als das

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