Der Lockvogel
genoss, sondern weil das kommunistische Russland stark und – wichtiger noch – gefürchtet gewesen war. Wenn man Malin gegenübersaß und mit ihm verhandelte, fing man an, etwas über totalitäre Staaten zu verstehen: Beide zeigten die gleiche Weigerung zu kommunizieren, und beide setzten diese Verweigerung mit Stärke gleich.
Onder hatte Malin, wie sich herausstellte, dreimal getroffen, einmal davon bei einem gesellschaftlichen Ereignis. Jedes Mal hatte ihn seine Weigerung beeindruckt, sich auf die Welt einzulassen; die Welt, so schien es, war verpflichtet, sich auf ihn einzulassen. Das machte es schwer, ihn zu durchschauen – Onder hatte selten jemanden getroffen, der so unerforschlich war. Doch aus seinem Verhalten hatte er schließlich bestimmte Dinge abgeleitet. Malin war stur, er kümmerte sich wenig um seinen Ruf im Westen, dessen Meinung ihm nichts bedeutete. Doch trotz all seiner scheinbaren Unbeweglichkeit traf er schnell und scharfsinnig Entscheidungen und war wahrscheinlich ein subtilerer und feinsinnigerer Denker, als sein eher grobes Auftreten vermuten ließ. Was ihn jedoch antrieb, war nicht zu ergründen. »Ich vermute«, meinte Onder, »dass er alles für Russland und sich selbst tut. Was davon ihm wichtiger ist, kann ich nicht sagen.«
Lock dagegen schien so gar nicht in dieses Bild zu passen. Onder hielt ihn für kompetent, aber nicht talentiert; eitel, gleichermaßen geschmeichelt und eingeschüchtert durch die Gesellschaft, in der er sich bewegte.
»Folgendes müssen Sie verstehen«, sagte Onder, lehnte
sich nach vorn und trommelte die wichtigen Worte mit einem Finger auf seinen Schreibtisch, »nämlich dass Malin nie erwartet hat, so groß zu werden. Jeder Russe ist so korrupt, wie es seiner Stellung im Leben entspricht. Wenn du Lehrer bist, verkaufst du Noten. Wenn du Fischhändler bist, gibst du deinen besten Fisch demjenigen, der im Gegenzug etwas für dich tun kann. Malin hat wahrscheinlich erwartet, ein Technokrat auf mittlerer Ebene zu werden, der die eine oder andere Gelegenheit dazu nutzt, jedes Jahr ein paar Millionen zu machen. Doch er hat es geschafft, sich zu einem Global Player zu entwickeln, und jetzt sind es Hunderte von Millionen, vielleicht sogar Milliarden. Und dafür hat er Lock.« Er lachte kurz auf. »Lock ist ein guter Mann für Millionen – mit Milliarden ist er überfordert. Doch irgendwie hat er sich selbst eingeredet, dass er dazugehört. Eine Lachnummer. Und Malin ist nicht dumm, überhaupt nicht, aber er kann Lock nicht ändern. Sie können diese Geschichte nicht umschreiben. Sie können sich nicht scheiden lassen. Es ist schlimmer als eine schlechte Ehe.« Onder lachte über seinen eigenen Witz.
»Welches Problem hat Lock? Warum bringt er es nicht?«
»Hören Sie, vielleicht tue ich ihm auch unrecht. Er ist durchaus intelligent und ein kompetenter Jurist, aber er ist einfach eine Fehlbesetzung.« Onder dachte einen Moment lang nach, wobei er die ganze Zeit Webster unverwandt anschaute. »Welches Problem er hat? Er ist kein Scheißkerl. Er ist zu nett. Er ist verblendet, ja, wahrscheinlich auch engstirnig und beschränkt, nur eben kein Scheißkerl. Um in dieser Welt zu überleben, muss man entweder wirklich hart oder wirklich dumm sein. Lock ist ziemlich intelligent und weich. Viel zu weich. Er wäre gerne Teil dieser Welt, aber
tief drinnen glaubt er nicht daran. Möglicherweise gar nicht mal so tief drinnen.«
Webster nickte; das klang plausibel. Seine Erfahrung sagte ihm, dass nur wenige der Locks dieser Welt absolut an ihren eigenen Mythos glaubten. Eine andere Frage stand im Raum, und einen Moment lang überlegte er, ob er sie stellen sollte. Vielleicht war sie auch gar nicht relevant.
»Wie unangenehm ist Malin?«
»Wie meinen Sie das?«
»Wie skrupellos?«
»Sie meinen, ob er über Leichen geht?«
»Ja.«
Onder lächelte und dachte nach. »Vielleicht, um sich zu schützen. Um aufzusteigen, hatte er es vermutlich nicht nötig. Er ist einer von der alten Schule. Ich glaube nicht, dass er sich vor der Justiz fürchtet.«
Eine vernünftige, ausgewogene Antwort. In Wirklichkeit war es nicht mehr als das, was Webster bereits wusste. Sie unterhielten sich noch ein wenig, aber er hatte genug erfahren. Er wusste nun, dass dieser Fall nicht auf eine Story, eine Spur, ein Dokument hinauslaufen würde, sondern auf einen Mann. Letzten Endes lief alles auf Lock hinaus. Er war Malins großer Schwachpunkt. Wenn man ihn umdrehte, hätte man nicht nur den
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