Der Lockvogel
zurecht?«
»Natürlich. Soll ich dich hinfahren?«
»Nein, danke. Ich glaube, ich gehe lieber zu Fuß. Ist das okay?«
Sie nahm wieder seine Hand. »Was ist, wenn Ike nicht da ist?«
»Er wird da sein.«
»In Ordnung. Sei vorsichtig. Und lass dich um Himmels willen nicht von einem Lastwagen überfahren.« Sie sah ihn an und drückte seine Hand, dann ließ sie ihn los.
Es dauert etwa eine halbe Stunde, vom Primrose Hill zum Well Walk in Hampstead zu laufen. Trotz seines dringenden Bedürfnisses zu verstehen, was geschehen war, ging Webster langsam und brauchte vierzig Minuten. Er wollte sich wieder fangen, bevor er Hammers Haus erreichte, und einige Telefonate führen. Während er lief, suchte er zunächst über sein Handy im Internet nach Nachrichten über Gerstmans
Tod. Nichts. Dann rief er Istvan in Budapest an und bat ihn, bei seinen früheren Kollegen von der Polizei so viel wie möglich herauszufinden. Er rief Leute in Deutschland an, um zu erfahren, ob die Nachricht dort schon angekommen war. Er durchforschte sein Gedächtnis, wen er noch anrufen könnte, als ob er durch das Auswerfen aller denkbaren Angelschnüre die Chancen erhöhen würde, herauszufinden, dass ihn keine Schuld traf. Aber es gab niemanden sonst. Er musste einfach warten.
Procks Theorie war natürlich nicht logisch. Wenn Gerstman tatsächlich etwas verraten hätte, wenn ihr Treffen geheim oder in irgendeiner Weise bedeutsam gewesen wäre, dann würde sie vielleicht einen Sinn ergeben. Gerstman musste Dinge gewusst haben – schließlich war das der Grund gewesen, warum Webster mit ihm reden wollte –, aber genug, um ihn zu einer Gefahr zu machen? Es erschien so unwahrscheinlich. Diese wachsende Beklemmung war genauso wenig logisch, dennoch wuchs sie. Er stellte sich vor, wie Gerstman von schattenhaften finsteren Männern verfolgt und schließlich erschossen, erwürgt oder vergiftet wurde, und wie seine gebräunte Haut blass und steif wurde. Webster war zu langsam gewesen und auch zu dumm; zu dumm, um zu begreifen, dass die Gewalt so nahe lauerte. Das war es natürlich, was Inessas Artikel ihm hätte sagen sollen. Der Artikel war ein Zeichen, das er geradezu mutwillig ignoriert hatte.
Er ging bergauf durch immer ältere und grünere Straßen in Richtung Hampstead, die Welt um ihn herum kurz vor Einbruch der Dämmerung immer noch lebhaft, die Farben kräftig. Mangels genauer Fakten liefen in seinem Inneren die Ideen und Bilder durcheinander. Inessa, die von uniformierten
Männern aus ihrem Hotelzimmer gezerrt wurde, Gerstman, der von dunklen, gestaltlosen Formen aus dem seinen gezogen wurde. Diese Geschichten passten zusammen, sie waren aus einem Guss.
Hammers Haus schien zwischen seinen Nachbarhäusern zu leuchten. Es war ein viergeschossiges Backsteingebäude mit Dachgeschoss, das die Haushälterin bewohnte; drei Jahrhunderte alt und schmal. Der helle Zement und die sauberen roten Backsteine gaben ihm ein beinahe koloniales Aussehen. Die meisten Fenster waren georgianisch, aber ein großer hölzerner Erker, weiß gestrichen und mit drei Kielbogenfenstern, hing im zweiten Stock über der Straße. Das Haus war viel zu gewaltig für Hammer, dachte Webster, der ihn um die Lage und den wunderbaren, feudalen Blick über London in Richtung City beneidete. Unten im flachen Kensal Green würde man das als wirkliche Pracht betrachten. Er hatte sich oft gefragt, ob das ganze Haus genutzt wurde; er hegte den Verdacht, dass viele Räume einfach nur alte Zeitungen und Bücher über historische Feldzüge beherbergten. Gab Hammer Partys? Hatte er Hausgäste? Bestimmt nicht.
Energisch betätigte Webster den Türklopfer. Hammer öffnete. Das war seltsam, weil seine Haushälterin Mary normalerweise montags frei hatte, nicht sonntags. Webster, der das bemerkte, fragte sich gereizt, was passieren musste, um seine Angewohnheit, belanglose Dinge zu registrieren, auszuschalten.
»Ben. Kommen Sie herein.« Hammers Gesicht ließ nur eine Andeutung von Überraschung erkennen, ein kaum wahrnehmbares Stirnrunzeln. Webster war dankbar für die einfache Begrüßung. Er wollte nicht hören, dass er schrecklich
aussah, oder gefragt werden, was los sei. Hammer trug eine dicke Strickjacke in schlammfarbenem Beige mit Schalkragen und hatte sich die Brille auf die Stirn geschoben. Er führte Webster in sein Arbeitszimmer. Rechts und links vom Kamin stand je ein Sessel, auf einem niedrigen Tisch bei dem weiter entfernten der beiden lag, neben einer billigen
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