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Der Lockvogel

Der Lockvogel

Titel: Der Lockvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Morgan Jones
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Erdgeschoss bestand aus riesigen, alten Steinplatten, und sämtliche Wände waren holzgetäfelt. Die Garderobe im Keller war stilgerecht feucht. Im ersten Stock gab es eine Bibliothek, in der Lock einen Tisch reserviert hatte. Dort standen echte Eichenregale voller echter russischer Bücher und neben den riesigen Schiebefenstern ein Messing-Teleskop und ein viktorianischer Globus. Alles wirkte, als sei der Hausbesitzer Hobbywissenschaftler und gerade für einen Moment nach draußen gegangen, nicht ohne seinen Gast aufzufordern, sich während seiner Abwesenheit ruhig ein bisschen weiterzubilden. An den cremeweißen Wänden verströmten Messing-Wandleuchter künstliches Kerzenlicht. Lock mochte diesen Ort, weil man hier, zwischen den eleganten Russen, die nach mehr als einem Jahrzehnt immer noch kamen, auch Touristen und sogar feiernde Moskauer aus der Mittelschicht antreffen konnte. Es hatte eine demokratische Atmosphäre, die Moskau ansonsten oft fehlte.
    Es dauerte eine Weile, bis man seine Tischreservierung gefunden hatte, aber das war immer so. Er wartete geduldig, während seine Kellnerin, angetan mit burgunderfarbener Weste und Schürze, sie umständlich im Computer suchte, der in dem warmen Licht wie ein hässlicher Anachronismus wirkte. Endlich setzte er sich und bestellte Gin Tonic. Oksana
würde natürlich zu spät kommen. Er las die Karte: russische Gerichte – Bliny, Pelmeni, Soljanka, Borschtsch, Kaviar, Stör, Bœuf Stroganoff. Er würde wie jedes Mal die Soljanka nehmen und dann vielleicht etwas Ente. Sein Drink kam, und er goss einen kleinen Schuss Tonic ins Glas. Wie das Wasser und der Wein, sagte er sich.
    Wenn er seinen Flug auf den Abend verschob, konnte er morgen früh schon mit seinem Dossier beginnen. Er brauchte nichts weiter zu tun, als alles vom Netzwerk herunterzuladen. Das würde vermutlich auf einen einzigen Memorystick passen. So etwas hinterließ natürlich Spuren, doch er war der Administrator dieses Systems, und in all der Zeit, die er für Malin arbeitete, hatte es nie jemand kontrolliert. Außerdem konnte er immer noch behaupten, dass er dieses Material mit nach London und Paris hatte nehmen müssen. Er müsste eine oder zwei Kopien machen und an geheimen, aber zugänglichen Orten deponieren. Vielleicht eine in Moskau und eine in London. Marina könnte eine aufbewahren. Wenn das hier einer von diesen Thrillern wäre, die er ab und zu las, dachte er, würde er eine Kopie seinem Anwalt anvertrauen und ihm sagen, dass er sie veröffentlichen soll, wenn ihm etwas Schreckliches zustößt. Aber er hatte keinen Anwalt – und selbst wenn er einen hätte: Niemand würde das bisschen, was er wusste, veröffentlichen. Man könnte es im Selbstverlag herausgeben. Bei diesem Gedanken musste er lächeln. Er fragte sich, ob Oksana noch lange brauchen würde, und bestellte sich noch einen Drink.
    Das war das Problem bei diesem Plan, dachte er. Sein Wert für Malin bestand allein darin, nicht Malin zu sein. Eigentlich wusste er recht wenig. Er war nicht wichtig genug, um Dinge zu wissen. Die einzige bedeutsame Tatsache, die
er wusste, war, ein Schwindler zu sein, aber das allein dürfte kaum ausreichen, um Malin zu erledigen. Und die grausame Ironie lag darin, dass Malin das wahrscheinlich nicht wusste – oder sich nicht leisten konnte, es zu glauben. Er hielt Lock für gefährlicher, als Lock war.
    Sein zweiter Drink wurde gebracht. Er schaute auf seine Uhr. Zwanzig nach. Oksana konnte noch zwanzig Minuten brauchen. Er nippte an seinem Gin und versuchte sich zu erinnern, was sie an diesem Tag vorhatte. Irgendetwas an der Universität. Es fiel ihm nicht ein, und so kehrte er zu seinem neuen Projekt zurück. Wie konnte man herausfinden, wie Malin stahl? Er überlegte lange, ohne dass ihm ein einziger Gedanke gekommen wäre. Gott, dachte er, er war einfach kein Spion.
    Als er das Glas an die Lippen hob, um den letzten Schluck seines Drinks zu nehmen, sah er Oksana eintreten, in herrschaftliches Schwarz gekleidet und einen Kopf größer als die Kellnerin, die sie an den Tisch führte. Einen Moment lang kam ihm der Gedanke, dass sie die perfekte Komplizin wäre. Sie hatte ein sicheres Auftreten und genug Coolness für sie beide. Er stand auf, um sie zu begrüßen, und sie küssten sich. Der Gin in seinem leeren Magen erwärmte ihn und verursachte ein leichtes Schwindelgefühl. Er bestellte einen weiteren und einen Wodka für Oksana. Sie schaute sich im Raum um und brauchte ziemlich lange, bevor sie auf

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