Der Lockvogel
Zivilisation. Er zündete sich eine Zigarette an, bereute es sofort und drückte sie wieder aus. Der Tag war grau und warm. Er rief Marina an – er hätte sie schon gestern anrufen sollen, war aber nicht in der Stimmung gewesen, mit irgendjemandem zu sprechen. Ein durchdringendes, abgehacktes digitales Quietschen ertönte, danach war die Leitung tot. Er versuchte es erneut, und diesmal erreichte er gleich ihre Mailbox.
»Hallo, ich bin’s. Ich bin gestern spätabends angekommen. Ruf mich an. Ich … ich würde gerne mit dir essen gehen. Vielleicht morgen? Ich habe nachgedacht über das, was du gesagt hast, als ich letztes Mal hier war. Liebe Grüße an Vika.« Nach so langer Zeit mit Kesler war es ein seltsames Gefühl, wieder über normale Dinge zu reden. Widerwillig ging er zurück ins Büro, wo das Sperrfeuer weiterging.
»Würden Sie bitte Ihr Verhältnis zu Konstantin Malin beschreiben?«
»Ich kenne ihn. Jeder, der in der russischen Energiebranche zu tun hat, kennt ihn.«
»Würden Sie ihn als Freund bezeichnen?«
»Eher als guten Bekannten, würde ich sagen.« Keslers Formulierung.
»Verstehe. Sie haben Mr. Malin also getroffen?«
»Natürlich. Einige Male.«
»Haben Sie jemals Geschäfte miteinander gemacht?«
»Nicht persönlich, nein. Faringdon hat oft mit dem Ministerium für Industrie und Energie zu tun, in dem Mr. Malin arbeitet.«
»Also hat Faringdon niemals von einer engen Beziehung zu Mr. Malin profitiert?«
»Absolut nicht.«
»Wirklich? Ihre Wege scheinen sich ja oft genug zu kreuzen. Nehmen wir einmal Sibirskenergo ZAO. Das ist doch ein Faringdon-Unternehmen, nicht wahr?«
»Wir besitzen 68 Prozent.«
»Wir?«, unterbrach Kesler.
»Sorry.« Lock holte Atem. »Faringdon besitzt 68 Prozent.«
Griffin nahm den Faden wieder auf. »Was ist Sibirskenergo für ein Unternehmen? Was macht es?«
»Es erschließt unzugängliche Ölvorkommen im hohen Norden Sibiriens. Skip, warum machen wir das? Das haben wir nicht vorbereitet.«
»Sie werden nicht auf alles vorbereitet sein. Das ist genau der Punkt. Nur weiter, Lawrence.«
»Und im Jahr 2006 hat Sibirskenergo wie viele Förderlizenzen in diesem Gebiet erhalten?«
»Skip, ich sehe nicht, was das für eine Relevanz hat.«
»Sie werden es gleich sehen. Sie wissen es schon. Nächste Frage.«
»Wie viele Lizenzen?«
»Vier.«
»Wer besaß diese Lizenzen vorher?«
»Ein Staatsunternehmen namens Neftenergo.«
»Und wie viele Unternehmen bewarben sich um die Lizenzen, als Neftenergo beschloss, sie zu verkaufen?«
»Keins. Nun ja, eins.«
»Nur Sibirskenergo?«
»Ja.«
»Für Vermögenswerte im Staatseigentum.«
»Ja.«
»Wie viel wurde gezahlt? Für alle vier?«
»Das darf ich nicht sagen. Ich erinnere mich nicht.«
»Was denn nun? Sie dürfen es nicht sagen, oder Sie wissen es nicht?«
»Ich darf es nicht sagen.« Lock schaute zu Kesler hinüber, doch Kesler gab lediglich Griffin mit einem Nicken zu verstehen, er solle weitermachen.
»Finden Sie es nicht ungewöhnlich, Mr. Lock, dass vier ausgesprochen wertvolle Lizenzen ohne Konkurrenzangebote an Ihr Unternehmen verkauft wurden?«
»Nein. Ich denke, das ist in Russland durchaus normal.«
»Tatsächlich? Obwohl es allen Richtlinien für den Verkauf von staatlichem Vermögen widerspricht?«
Darauf hatte Lock keine Antwort.
»Mr. Lock, können Sie mir sagen, welches Ministerium für den Verkauf der Lizenzen verantwortlich war?«
»Das Ministerium für Industrie und Energie.«
»In dem Mr. Malin arbeitet?«
»Ja.«
»Danke, Mr. Lock.« Griffin schaute zu Kesler.
»Sehen Sie, Richard?« Keslers Tonfall schwankte zwischen Verzweiflung und Triumph. »Sie haben uns nie von diesen Lizenzen erzählt. Können Sie mir sagen, warum?«
»Ich hatte sie ganz vergessen. Es schien mir nicht wichtig.«
»Nun, Richard, genau damit müssen Sie übrigens unbedingt aufhören: Entweder haben Sie es vergessen, oder es war nicht wichtig, entweder Sie dürfen es nicht sagen, oder Sie wissen es nicht. Es kann nicht beides sein. Geben Sie eine einzige Erklärung, und belassen Sie es dabei. Seien Sie klar. Verstanden?«
Lock seufzte. Er war es müde, gemaßregelt zu werden. »Ja, ich verstehe.«
»Also, in dieser Situation sagen Sie, dass Sie nicht wissen, wie viel das Unternehmen genau für die Lizenzen bezahlt hat – Sie sind zu wichtig, um solche Details zu kennen –, dass es aber Marktpreise waren und dass Sie glauben, dass der russische Rechnungshof es abgesegnet hatte. Wenn das
Weitere Kostenlose Bücher