Der Lockvogel
Eine Autopsie hatte ergeben, dass Gerstman einen Blutalkoholspiegel von vier Promille gehabt hatte – damit musste er mehr oder weniger bewusstlos gewesen sein. Um Mitternacht, rund zwei Stunden vor seinem Tod, war er im Black Cat gesehen worden, einer Schwulenbar, die rund zehn Minuten vom Gellért entfernt lag. Er hatte überdreht gewirkt, laut einem Zeugen »völlig außer sich«. Niemand war bei ihm. Die Polizei hatte nicht ermitteln können, wann er den Club verlassen oder was er getan hatte, bevor er ins Gellért kam. Fünf Minuten vor seinem Sprung hatte er seiner Frau einen Abschiedsbrief gemailt. Die Polizei war mittlerweile überzeugt, dass es sich um Selbstmord oder um einen Unfall handelte, und plante keine weiteren Ermittlungen.
Für Lock, der die ganze Nacht damit verbracht hatte, über Malins Worte zu brüten und sich immer wieder einzureden, dass er nun mehr denn je unverzichtbar war, bedeutete diese Nachricht einen Schock. Dmitri trank nicht. Das hatte er nie getan. Lock hatte ihn nie auch nur ein einziges Bier trinken sehen. Er war dafür in Malins gesamtem Team bekannt gewesen. Konnte er wirklich schwul sein? Er war in Moskau nie heimisch geworden, das stimmte: Immer wenn Lock ihn dort traf, hatten ihn die Leute damit aufgezogen, dass er joggte, dass er elegante Anzüge trug, dass er keinen Wodka trank. Lock stellte sich vor, wie andere, die Gerstman gekannt hatten, beim Hören der Nachricht nicken und sich dafür beglückwünschen würden, es immer schon gewusst zu haben. Aber er und Nina hatten echt gewirkt. Sie waren sich nahe, verhielten sich natürlich – Lock hatte es gesehen. Konnte man so etwas vorspielen?
Letzten Endes hielt sich Lock für nicht spitzfindig genug, das durchzudenken. Er wusste nur, dass es in Russland nicht viele Zufälle gab, er war intelligent genug, das zu wissen. Und er durfte nicht einfach warten, bis einer davon ihn erwischte.
Am Abend vor seinem Abflug nach London und Paris ging Lock mit Oksana ins Café Puschkin essen. Auf dem Weg dorthin musste er an etwas denken, was Kesler ihn gefragt hatte: Wenn Sie beweisen wollten, dass Malin korrupt ist, wo würden Sie nachsehen? Wenn Malin Gerstmans Tod befohlen hatte, dann war das nicht geschehen, weil er etwas gegen seine Trinkgewohnheiten oder sexuellen Vorlieben hatte. Gerstman musste etwas gewusst haben. So viel war klar.
Weniger klar war, wie viel Lock selbst eigentlich wusste; noch diffuser war, was Malin glaubte, dass er wusste. Zweifellos weniger als Gerstman, oder? Vielleicht auch nicht. Vielleicht wusste er alle möglichen Dinge, ohne jedoch deren Bedeutung zu begreifen. Wenn das stimmte, riskierte Lock, dass ihm völlig ohne Grund ein Unglück zustieß. Nach all diesen fremdbestimmten Jahren hatte er keinerlei Bedürfnis danach, seine Tage so machtlos zu beenden. Also hatte er die Wahl: Er konnte Malin zeigen, dass er keine Bedrohung darstellte, oder sich entschließen, doch noch zu einer Bedrohung zu werden.
Sein Auto steckte im mehrspurigen Verkehr auf der Twerskaja fest. Er schaute aus dem Fenster auf die kastenförmigen Ladas und die massigen ZiL-Lkws um ihn herum. Selbst in seinem eigenen BMW stauten sich die Abgase. Was würde ein Russe an seiner Stelle tun? Ein Russe tat niemals irgendetwas aus einem einzigen Grund. Das war ein wichtiges Prinzip. Der Russe hatte zwei Gesichter: Eines zeigte er der Welt, und das andere verbarg er. Lock hatte diesen Trick nie erlernt. Wenn seine russischen Kollegen Gerstmans Weichheit belächelt hatten, dann lachten sie ganz sicher immer noch über Locks Naivität. Doch barg nicht seine Situation die Chance, genau das zu nutzen? Wenn er Malin von seiner Harmlosigkeit überzeugen konnte und gleichzeitig das ausbaute, was er wusste – zweifellos war das die vernünftigste Option. Ein Dossier. Er brauchte ein Dossier. Das war es, was Leute in seiner Lage machten, sie stellten eine Geheimakte zusammen, um sie einzusetzen, wenn es nötig wurde – wenn man Glück hatte, vielleicht niemals. Und überhaupt: Was hatte er denn in der Hand, außer dem, was er wusste.
Lock spürte neue Energie in sich aufsteigen. Er hatte eine Idee gehabt, zum ersten Mal seit Jahren, eine konkrete Idee über sein eigenes Schicksal. Jetzt musste er nur noch den Mut finden, danach zu handeln.
Das Café Puschkin war dem Stadthaus eines reichen Russen vom Anfang des neunzehnten Jahrhunderts nachempfunden. Es war auf pedantische, geradezu absurde Weise authentisch: Der Fußboden im
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