Der Lockvogel
Russland so mächtig und sicher war, den Tod seines früheren Untergebenen wollen? Es war Jahre her, dass Dmitri gegangen war, und er hatte nie irgendetwas getan, das den Verdacht nahelegte, er könnte eine Bedrohung darstellen. Dazu war er viel zu klug.
Zwanzig Minuten später, inzwischen stach die Kälte in
seinem Gesicht, überquerte er den Fluss, und die gewaltige, undurchdringliche rote Mauer des Kreml kam in Sicht. So vieles von Moskau vermittelte den Eindruck einer Festung. Die ganze Stadt konnte einem wie eine Burg vorkommen, der Kreml war der Burgfried, der Rest ein riesiger Burghof voller Bauern, die ihre Ehrerbietung erweisen. Er dachte, vielleicht hat Malin trotz dieses bestimmten Angstgefühls in meinem Magen mit all dem nichts zu tun. Schließlich wusste niemand genau, was Dmitri in Berlin getan hatte; er hatte genug Zeit gehabt, sich dort Feinde zu machen. Als Lock beim Ministerium ankam, einem völlig unscheinbaren Gebäude hinter der riesigen Baulücke, die einmal das Hotel Rossija gewesen war, hatte er sich selbst überzeugt, dass es für Malin keinen Sinn ergab, Gerstman zu töten. Es war nicht logisch, und Malin war immer logisch.
In der Lobby erklärte er einem Wachmann hinter einer Glasscheibe den Grund seines Besuchs und händigte seinen Pass aus. Er ging durch einen Metalldetektor und wurde von einem weiteren Wachmann zwei Treppen hinauf und einen breiten, kahlen Korridor entlang zu Malins Büro begleitet. Er kannte den Wachmann, und alle Wachmänner kannten ihn.
Er war ein wenig zu früh. Er setzte sich auf seinen gewohnten Stuhl im Vorzimmer, wartete und machte sporadisch Small Talk mit Malins Sekretärin. Um fünfundzwanzig Minuten nach acht öffnete sich Malins Tür, und ein schmaler, gerissen aussehender Mann mit einer Aktentasche unter dem Arm trat heraus. Seine Haltung war leicht gebeugt, und durch die Anstrengung des ständigen Aufblickens sah sein Hals unnatürlich angespannt aus.
»Alexej.«
»Richard.« Sie schüttelten sich die Hände. Es war Alexej Tschechanow, Locks Pendant. Was Lock offshore regelte, besorgte Tschechanow in Russland. Er führte Malins Geschäfte dort, er hatte zwar keinen offiziellen Titel, doch letztlich war er Geschäftsführer der geschlossenen Aktiengesellschaft Malin Enterprises. Soweit Lock es sich im Lauf der Jahre aufgrund von Beobachtungen zusammengereimt hatte – es war ihm nie erklärt worden –, verdiente Tschechanow für Malin in Russland Geld und überwachte, wie es angelegt wurde. Wenn ein ausländisches Ölunternehmen mehr als nötig für eine Förderlizenz bezahlte, setzte Tschechanow den Preis fest und wickelte die Sache ab. Musste der entstandene Profit investiert werden, brachte Tschechanow ihn klug unter. Wenn dieses Investment verloren zu gehen drohte, war er es, der dafür sorgte, dass es nicht so weit kam. Er hatte die bei Weitem wichtigere Position inne, dennoch hatte er den Anstand, Lock als ebenbürtig zu behandeln.
»Hat lange gedauert heute«, sagte Lock. »Wie geht es ihm?«
»Wir hatten viel zu besprechen. Momentan haben wir jede Menge zu tun.«
»Sie auch? Alles in Ordnung, hoffe ich?«
»Ja, alles ist gut. Wir müssen uns bald einmal treffen. Es gibt Dinge, die wir bereden müssen.«
»Etwas Interessantes?«
»Es ist immer interessant. Ein Unternehmen in Bulgarien. Vielleicht etwas zu verkaufen in Kasachstan. Wir werden sehen.«
»Gut. Rufen Sie mich an.«
»Sehr gut. Sie müssen reingehen.«
»Stimmt. War schön, Sie zu sehen, Alexej.«
Lock streckte Tschechanow ein wenig unbeholfen seine Hand hin, und dieser schüttelte sie erneut. Lock klopfte leise an Malins Tür und ging hinein. Das Büro war weder groß noch opulent. Malin las in einigen Papieren, die vor ihm auf dem Schreibtisch ausgebreitet lagen, der ansonsten leer war: ein Glas Wasser, eine Reihe Stifte, kein Computer. An der Wand hinter ihm hingen zwei Fotos: Auf einem schüttelte er Jelzin die Hand, auf dem anderen Präsident Putin. Ein dritter Bilderrahmen enthielt seinen Verdienstorden des Vaterlandes, ein achtzackiger Stern mit doppelköpfigem Adler in Gold in der Mitte.
»Guten Abend, Richard.« Malin sah nicht auf. »Bitte, setzen Sie sich.«
Lock schaute ihm zu, wie er las. War das ein böser Mensch? Was lag hinter diesen ausdruckslosen Augen? Eine schwarze Seele? Kalter Hass? Effizienz, dachte Lock. Die zielstrebige Entschlossenheit, sein Ziel zu erreichen. Welches Ziel, hatte er nie erfahren.
Malin beendete seine Lektüre und legte das
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