Der Lockvogel
Tribunal genaue Zahlen benötigt, werden Sie sie nachliefern.«
»Okay.«
»Scheuen Sie sich nicht, ihnen weniger zu geben, als sie haben wollen. Sie sind ein wichtiger Mann. Man kann nicht erwarten, dass Sie alle Details parat haben.«
Lock fühlte den Memorystick in seiner Hosentasche: etwas über ein Gigabyte Unterlagen, Transaktionen, Aufstellungen, Tabellen, Memoranden. Nein, dachte er, ich weiß eine ganze Menge Details. Aber immer die falschen.
Als die Anhörung näherrückte, sah Lock mit kindlicher Erleichterung jeder Atempause von Kesler und dessen endloser Abfolge der Fragen und Anweisungen entgegen. Noch nicht einmal in seinem Hotel war er sicher: Das Connaught war ausgebucht und Kesler deswegen ebenfalls im Claridge’s abgestiegen. Also genoss Lock jeden Moment der Freiheit – Frühstück auf seinem Zimmer, Zigaretten vor der Tür, Telefonate mit Moskau (manche davon echt, manche erfunden) –, und der Sonntagmorgen war purer Luxus: nichts zu tun bis zum Mittag, dann mit dem Taxi zum Bahnhof St. Pancras und in den Zug nach Paris steigen.
Er hatte den Abend mit Marina und Vika verbracht. Seine erste Idee war gewesen, sie in der Wohnung zu besuchen und mit Marina essen zu gehen, sobald Vika im Bett lag, aber Marina hatte vorgeschlagen, zu dritt loszuziehen, und das hatte ihm eingeleuchtet. Gegen sechs Uhr war er im gespenstisch leeren Büro von Bryson Joyce fertig gewesen, und sie hatten sich in Vikas Lieblingsrestaurant in Kensington getroffen. Das London dieser Stadtviertel war neu für ihn – er kannte das Zentrum, Mayfair, die City und sah alles dazwischen meist nur aus dem Taxifenster. Er fühlte sich privilegiert, in diese stillen, beinahe geheimen Freuden eingeführt zu werden. Sie hatten Burger gegessen, einander geneckt und zugesehen, wie Vika mit einem langen Löffel aus einem hohen Glas Eis löffelte. Das Restaurant war voll von Familien, die das Gleiche taten, und für ein oder zwei Stunden hatte Lock vergessen, dass der Abend damit enden würde, allein in sein Hotelzimmer zurückzukehren.
Dieser Augenblick war immer schmerzhaft. Er nahm an, dass es für Vika ebenso war, zumindest momentan, und er fragte sich, ob auch Marina litt. Er hatte vorgehabt, nach
dem Essen mit ihr zu reden, über Dmitri, über sie beide, doch irgendwie hatte es sich nicht ergeben. Marina hatte festgestellt, dass es spät war und Vika ins Bett musste, und das war es gewesen. Er wusste nicht, welchem Thema sie eifriger aus dem Weg ging. Für Lock war dies ein Rückschlag, wenn auch kein ernster. Jahrelang hatte er sich nach Kräften bemüht, Marina zu ignorieren, sobald sie ihm sagte, was sie fühlte. Nun wollte er es wissen – und wenn er ehrlich war, von Tag zu Tag dringender. Aber er konnte noch ein wenig warten, schließlich würde er bald wieder hier sein.
Trotz alledem wäre er lieber in Holland Park gewesen, als seinen Koffer zu packen und sich auf zweieinhalb Stunden Zugfahrt mit Kesler einzustellen. Dort würden sie nicht über Geschäftliches reden können, das war immerhin ein Fortschritt, doch was würden sie stattdessen tun? Worüber redete Kesler, wenn er nicht über die Arbeit redete? Es dauerte einen Augenblick, bis Lock sich eingestand, dass sich Kesler vielleicht die gleiche Frage über ihn stellte.
Kesler stand an der Rezeption, als er herunterkam, um auszuchecken.
»Guten Morgen, Richard. Oder ist es schon Nachmittag? Gut geschlafen?«
Lock sagte, das habe er, und bat um seine Rechnung. Mit der Rechnung wurde ihm ein Brief ausgehändigt, der an diesem Morgen persönlich abgegeben worden war. Sein Name stand in Marinas Handschrift auf dem Umschlag.
»Ein billet doux ?«, fragte Kesler.
Lock fühlte, wie er errötete. »Nein, nein. Nur eine private Sache.« Er steckte den Umschlag in die Tasche seines Jacketts und gab der Empfangsdame seine Kreditkarte.
Auf dem gesamten Weg zum Bahnhof und während sie
in der Business Lounge auf Griffin warteten (Griffin durfte nicht auf Malins Kosten im Claridge’s absteigen, wie Lock befriedigt festgestellt hatte), selbst beim Besteigen des Zuges konnte er den Brief auf seinem Herzen spüren. Er schien regelrecht Hitze abzustrahlen. Erst als sie sich in ihrem Wagen hingesetzt hatten und der Zug eine Weile durch Südlondon gefahren war, wagte er, sich zu entschuldigen. Er fand im Speisewagen einen freien Platz und öffnete dort den Brief. Er war mit schwarzer Tinte auf schwerem, elfenbeinfarbenem Papier mit ausgeprägter Struktur geschrieben, die
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