Der Lockvogel
Handschrift war grazil und doch präzise, die Zeilen gerade und mit gleichmäßigem Abstand. Sobald er den Brief sah, hatte er alle Briefe vor Augen, die Marina ihm je geschrieben hatte; ernsthafte und leidenschaftliche vor ihrer Hochzeit; geschwätzige, wenn er auf irgendeiner sinnlosen Geschäftsreise war; schmerzerfüllte und resolute am Ende ihrer Ehe. Sie hatte ihm weitaus öfter geschrieben als er ihr; seine eigenen Briefe wirkten neben ihren unbeholfen, und sie zu schreiben war ihm immer schwergefallen. Er fragte sich, ob sie sie dennoch aufgehoben hatte, so wie er die ihren.
Es waren drei Blätter, beidseitig beschrieben.
Holland Park
Samstagabend
Liebster Richard,
vielen Dank für einen wundervollen Abend. Ich hoffe, es hat Dir nichts ausgemacht, Deine Pläne zu ändern. Es ist wichtig, dass wir drei immer noch Spaß zusammen haben können. Vika hat den Abend genossen, aber sie ist jedes
Mal traurig, wenn sie sich von Dir verabschieden muss. In gewisser Weise schreibe ich Dir aus diesem Grund.
Als wir nach Hause kamen, hat sie mich gefragt, ob Du glücklich bist. Ich sagte Ja, das seist Du, doch Deine Arbeit sei sehr hart, und vielleicht gäbe es zu viele Dinge, die Dir Sorgen machten. Ich erzähle Dir das, weil Vika, so wie ich sie kenne, Dir deswegen Fragen stellen wird, aber auch, weil ich darüber nachgedacht habe, wie viel Wahrheit in meinen Worten steckt. Der Unterschied zwischen Dir jetzt und Dir, als ich Dich im Sommer zuletzt sah, ist so deutlich. Es liegt etwas Neues in Deinem Gesicht.
Ich möchte mich bei Dir entschuldigen, dass wir nicht richtig dazu kamen, über Dmitri zu sprechen. Es ist sehr schwer für mich. Wenn das, was Du befürchtest, stimmt, dann muss ich akzeptieren, dass ein Mann, den ich einmal respektiert habe – der Mann, der uns zusammengebracht hat –, zu etwas Schlechtem geworden ist. Ich sage nicht, dass das nicht zutrifft – ich habe das schmerzliche Gefühl, dass Du recht hast –, aber Du musst verstehen, dass es mir wehtut, so etwas zu glauben.
Ob es nun stimmt oder nicht, ich glaube, es will Dir etwas sagen. Die Tatsache, dass es wahr sein könnte, ist schon genug. Du hast zu Recht Angst. Vielleicht magst Du es nicht noch einmal hören, aber vielleicht ist auch jetzt der Zeitpunkt gekommen, an dem Du es hören kannst: Du arbeitest für einen korrupten Mann in einer korrupten Branche in einem korrupten Land, und es hat Dich korrupt gemacht. Ich will nicht, dass es dich umbringt.
Lock hielt an dieser Stelle einen Moment inne und schaute aus dem Fenster, wo die Stadt langsam in ländliches Gebiet
überging. Sie hatte recht – immer, unfehlbar –, und er war zur Abwechslung in der Stimmung, das zu akzeptieren.
Früher warst Du voller Neugier, und in allem schien für Dich eine Möglichkeit zu stecken. Ich liebte Dich dafür. Ich liebte Dich, weil Du wolltest, dass Russland sich ändert. Ich liebte Dich, weil Du keine Angst hattest. Und ich liebte Dich, weil Du über all das lachen konntest. Alle unsere Leidenschaften werden schwächer, unsere Energie lässt zwangsläufig nach, doch Dein Job hat mehr getan als das. Er hat den größten Teil von Dir genommen, Richard, und das tut mir so weh.
Es gibt zwei Dinge, vor denen ich Angst habe. Ich habe Angst, dass ich eines Tages einen Anruf bekomme, dass Dir etwas Schreckliches passiert ist, und dass ich es dann Vika sagen muss. Schon vor Dmitri hatte ich diese Angst.
Doch mehr noch habe ich Angst, dass es bald ohnehin zu spät sein wird für Dich. Dass alles, was Du einmal warst, verschwunden sein wird. Das Schlimmste, was sie mit Dir gemacht haben, war, Dich davon zu überzeugen, dass es in der Welt nur um Geld und Macht und Öl geht. Das bist nicht Du. Wenn ich sehe, wie Du Vika zum Lachen bringst, dann weiß ich das immer noch. Diesmal hatte ich den Eindruck, dass Du es auch weißt.
Wenn ich Dich so sehe, wage ich zu hoffen. Hoffnung ist eine gefährliche Sache. Wenn ich mir vorstelle, dass wir drei zusammen sind, dann sage ich mir, dass ich es will, weil Vika glücklich sein soll. Aber ich will es auch, weil ich glücklich sein will. Es wäre leichter für mich, wenn Du nicht mehr zu retten wärst, aber so weit ist es noch nicht.
Dieser Brief hat einen Grund – einen praktischen Grund.
Du musst Russland verlassen. Ich weiß, das ist schwierig, aber es kann nicht unmöglich sein. Ich werde alles tun, um zu helfen. Der Plan muss von Dir kommen: Überlege Dir etwas und lass uns darüber reden. Sobald Du
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