Der Lockvogel
schaute auf die Theke, spielte mit ihren Essstäbchen.
Er legte seine Hand auf ihren Rücken. »Hast du Angst?«
»Es gefällt mir nicht. Ich kenne dich, wenn du so bist. Es ist besser, wenn du einen Fall hast, den du nicht magst.«
»Sobald ich glaube, dass ich in Gefahr bin, höre ich auf. Aber das bin ich nicht. Wirklich. Nach dem, was in Budapest passiert ist, werden die mir nichts antun. Wie würde das aussehen?«
»Es könnte ihnen egal sein.«
»Vielleicht. Aber einen Engländer umzubringen, bedeutet richtig viel Ärger. Die Polizei macht eine genaue Untersuchung. Das sind sie nicht gewohnt.«
Mehr Essen wurde gebracht. Elsa nahm einen Spieß und begann, mit den Stäbchen das Fleisch auf ihren Teller zu schieben.
Ohne ihn anzusehen, sagte sie: »Denkst du nicht, dass du aufhören solltest?«
»Ja und nein.«
»Anstandshalber.«
Er zögerte. »Ich habe einen Artikel gefunden, den Inessa über Malin geschrieben hat. Zwei Monate, bevor sie starb. Ich wusste nichts davon.«
»Und?«
»Damit ergibt alles einen Sinn. Er hatte genug zu verlieren. Und Freunde in der ganzen Regierung. Er könnte es getan haben.«
»Du glaubst, er hat Inessa umgebracht?«
»Er wäre ein Kandidat.«
Elsa schüttelte den Kopf und seufzte. »Das ist neu. Aber auch altbekannt.«
»In gewisser Weise ist es unwichtig.« Er sah, wie Elsa überrascht die Augenbrauen hob. »Ich weiß, dass ich es niemals wissen werde. Ich bin hier nicht auf einem Kreuzzug.«
»Nein. Du suchst nach einer Art Absolution.«
»Ich hätte nicht einfach weggehen sollen. Du weißt, dass ich das bereue.«
»Sie haben dich hinausgeworfen.«
»Ich meine aus Russland.«
Elsa nickte. »Also geht es um Gerechtigkeit.«
Webster spürte, wie seine Entschlossenheit zerbröselte. »Ich weiß es nicht.«
»Du attackierst den Großen Russen – in der Hoffnung, dass er damals schuld war.«
»Er verdient es ohnehin. Und so wie es aussieht, wäre er dazu fähig.«
»Und was hättest du in der Hand? Einen Artikel und ein Gefühl.«
»Wenn er stürzt, werden Dinge herauskommen«, sagte er. »Dann ist er nicht mehr geschützt. Vielleicht kommt dann sogar alles heraus.«
»Und wie wahrscheinlich ist das?«
Webster schwieg. Eine der Eigenschaften, die er an Elsa liebte, die ihm jedoch nicht immer Vergnügen bereitete, war, dass sie ihm keinen Raum ließ, sich selbst etwas vorzumachen. Nur in diesem Punkt wirkte sich ihre Arbeit auf ihr Privatleben aus. Sie war Psychologin und Familientherapeutin, und ihre Entschlossenheit zur Ehrlichkeit wankte nie.
Eine Kellnerin kam, um ihre Suppenschalen abzutragen und zu fragen, ob sie noch mehr Sake wollten. Elsa lächelte geistesabwesend und lehnte höflich ab.
»Schatz«, sagte sie, beugte sich zu ihm hinüber und legte ihre Hand auf seinen Arm, »du schuldest ihm nichts. Gerstman. Genau wie Inessa. Damit hat Ike recht.«
»Ich glaube, doch.« Er hob seinen Becher, sah, dass er leer war, und stellte ihn wieder ab. »Es wäre schön, wenn jemand zur Verantwortung gezogen würde. Nur ein Mal. Wenn nicht für Inessa, dann für alle anderen.«
Elsa sagte nichts. Er fuhr fort: »Hör zu, ich werde nach Berlin fliegen und mit seiner Witwe sprechen. Ich muss. Und dann treffe ich mich nächste Woche mit unserem Klienten.
Er wird die Sache vielleicht sowieso beenden. Wir sind schließlich nicht sehr weit gekommen.«
Elsa nickte. »Okay. Okay.« Sie sah ihm in die Augen. »Aber du musst mir eines versprechen: Wenn du auch nur eine Sekunde lang denkst, dass du in Gefahr bist, sagst du es mir und hörst auf.«
Er lächelte. »Natürlich.«
»Ich meine es ernst, Ben.«
»Ich weiß. Und ich liebe dich dafür.«
Sie lachte, entspannte sich, schüttelte den Kopf und schaute sich nach der Kellnerin um. »Wir brauchen noch etwas zu trinken.« Sie wandte sich wieder ihm zu. »Wäre es nicht schön, Bäcker zu sein oder Gärtner oder Bankmanager? Meinst du nicht? Irgendetwas Einfaches?«
»Genau das habe ich auch gedacht. Die ganze Woche lang.«
Die Straße, in der Nina Gerstman wohnte, war schmal für Berlin, die Gebäude waren hoch, und in einigen von ihnen befanden sich Läden, die eine diskrete Exklusivität ausstrahlten. Man musste schon genau hinschauen, um zu erkennen, wie erstklassig diese Wohngegend eigentlich war, dachte Webster; nicht demonstrativ, sondern solide und betucht. Webster zahlte sein Taxi, fand die Nummer 23 und warf einen Brief in Ninas Briefkasten. Jetzt konnte er nichts weiter tun als warten. Er
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