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Der Lockvogel

Der Lockvogel

Titel: Der Lockvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Morgan Jones
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beobachtete ihn und rauchte. Er tippte seine Asche in den Aschenbecher und redete weiter.
    »Halten Sie es für wahrscheinlich, Richard, dass der größte ausländische Investor in der russischen Ölindustrie den Unterschied zwischen Kerosin und Benzin nicht kennt?«
    »Ich hatte nicht … Ich bin nur Anteilseigner.«
    »Oder die Standardkonditionen einer Ölförderlizenz?«
    Lock blickte auf seine Schuhe. Malin sprach weiter.
    »Oder den Gesamtumsatz der Gruppe in den letzten zehn Jahren?«
    Lock spürte einen scharfen, beengenden Schmerz hinter seinem Brustbein. Ein schaler Geruch umgab ihn. Er hatte das Bedürfnis, endlich zu duschen.
    Malin schaute ihn immer noch an.
    »Tut mir leid«, war alles, was ihm einfiel.
    Malin drückte seine Zigarette aus, trennte die brennende Asche vom Filter; auch dabei ließ er Lock nicht aus den Augen.
    »Sie waren in letzter Zeit international zu sehr exponiert, glaube ich.« Malin saß vornübergebeugt wie ein Frosch, seine massigen Schultern hingen herab. »Es ist eine schwierige
Situation. Es gibt Artikel in der Presse, und der Prozess läuft noch weiter. Man wird Sie unter Druck setzen, und ich will nicht, dass Ihnen etwas zustößt.« Er machte eine Pause. »Sie sind zu wichtig für mich.« Das schien nach einer Antwort zu verlangen, aber Lock wartete. »Darum habe ich Ihnen neue Bodyguards organisiert. Diese Männer sind gut. Sie werden dafür sorgen, dass Sie geschützt sind. Sie werden dafür sorgen, dass niemand an Sie herankommt.«
    Lock wollte antworten, doch sein Kopf war leer. »Was ist mit Andrej?«, brachte er zustande.
    »Er hat eine neue Aufgabe erhalten.« Malin beugte sich auf dem Sessel weiter nach vorne. »Gibt es noch etwas, das Sie mich fragen möchten?«
    »Werde ich … Darf ich kommen und gehen, wann ich will?«
    »Natürlich. Es hat sich nichts verändert.«
    »Wie lange wird das dauern?«
    »Nicht lange. Es ist eine vorübergehende Maßnahme. Wenn sich die Lage beruhigt hat, können wir wieder zur Normalität zurückkehren.« Lock spürte, dass Malins forschender Blick auf ihm ruhte und dass ihm gleichzeitig etwas mitgeteilt wurde: Unterschätze nicht den Ernst dieser Sache.
    Malin stand auf und streckte seine Hand aus. Lock ergriff sie.
    »Auf Wiedersehen, Richard. Wir sehen uns am Dienstag im Ministerium.«
    »Ja. Gute Nacht.«
    Malin ging allein hinaus. Lock blieb in seinem Wohnzimmer zurück und dachte nach. Er dachte über viele Dinge nach, doch am meisten beunruhigten ihn die Dinge, die ungesagt
geblieben waren. Keine Erwähnung der Recherchen gegen Tourna. Keine aufmunternden Worte, keine Durchhalteparolen. Es war, als wäre er nicht mehr von Bedeutung.

    Malin hatte recht: Es veränderte sich nichts. Lock war überrascht, wie wenig Unterschied es in seinem Leben machte, dass nun ein bewaffneter Bodyguard auf ihn aufpasste. Er ging ins Büro, er aß zu Mittag, er kam nach Hause, er verbrachte ein trostloses, einsames Wochenende. Jegliche Freiheit wäre an ihn verschwendet gewesen.
    Sein Bewacher wechselte allabendlich um neun Uhr. Lock wusste, dass jede seiner Bewegungen zur Kenntnis genommen und weiterberichtet wurde. Und er wusste, obwohl es nicht ausgesprochen worden war, dass er das Land nicht verlassen und auch keinen Wochenendtrip nach St. Petersburg machen konnte. Aber auch das bedeutete keine große Veränderung. Er war schon seit Jahren vom Wohlwollen eines anderen abhängig. Jetzt war es lediglich offiziell.
    Eine Veränderung gab es allerdings – Oksana fehlte. Nach seiner Rückkehr aus Paris hatte er eine Woche lang versucht, ein genügsames Leben zu führen und das Gewicht zu ignorieren, das morgens beim Aufwachen auf seiner Brust lastete, doch jeder kleine Rückschlag, jede Erinnerung an seine Lage weckte in ihm den Wunsch, sie zu sehen. Mehr als alles andere wollte er mit jemandem reden, der nicht Teil seiner Welt war. Er verfluchte seine Schwäche, aber das machte ihn nicht stärker.
    Und dann waren da noch Marina und der Brief. Er trug ihn eng am Körper, in der Innentasche seiner Jacke, wo er ihn gleichermaßen als beruhigend und als gefährlich empfand
– wer ihn las, würde ohne Zweifel zu dem Schluss kommen, dass Lock kurz davor stand, entweder zu desertieren oder einfach zusammenzubrechen. Er wusste nicht, warum er ihn immer bei sich hatte. Er hielt ihre Analyse für richtig, ihr Rezept aber für falsch oder zumindest unrealistisch, deshalb konnten ihre Worte ihm nicht als Inspiration, Richtschnur oder Ansporn dienen (dass

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