Der Lockvogel
er jeden Morgen, so sicher wie die Sonne aufging, einen Bewacher an seiner Tür vorfand, war ihm Ansporn genug.) Dennoch schwirrten ihre Worte in seinem Kopf herum, vielleicht, weil das, was sie am klarsten ausdrückten, die Tatsache war, dass sie noch etwas für ihn empfand, dass es in einem anderen Universum, in dem seine Gefangenschaft nicht so streng und so vollkommen war, vielleicht Hoffnung geben konnte.
Die Zeitungen waren wieder aktiv geworden. Das Wall Street Journal hatte ein Profil Malins abgedruckt, das zwar seine offiziellen Verdienste aufzählte, insgesamt aber keineswegs schmeichelhaft ausfiel. Die Überschrift lautete »Russlands geheimer Oligarch«, und der Artikel ging in der Beschreibung der Verbindungen zu Langland, Faringdon und Lock viel weiter als die Geschichte in der Times . Die FT hatte nachgelegt mit einem Artikel über Langland, deren erstaunliche Menge von Tochterfirmen und den mysteriösen Eigentümer, einen gewissen Richard Lock.
Das Einzige, was ihm etwas Hoffnung gab, war sein Plan, der nun wichtiger war denn je. Und gefährlicher. Jeden Tag nach dem Abendessen arbeitete er daran. Seine ursprünglichen Notizen hatte er verbrannt, jetzt speicherte er alle Informationen im Kopf. Es war ohnehin nicht sehr kompliziert. Zwei Probleme musste er noch lösen: Wie sollte
er sein Telefon dazu bekommen, genau in dem Moment zu klingeln, wenn Tschechanow gerade gehen wollte, und wie knackte man das Schloss eines Aktenschranks? Letzteres hatte er an einem Aktenschrank bei sich zu Hause geübt. Er begann mit einer aufgebogenen Büroklammer, die sich aber als zu instabil erwies. Schließlich nahm er eine Haarklammer, die Oksana in seinem Bad liegen gelassen hatte. Mit etwas Übung konnte er fühlen, wie die Stifte im Inneren sich auf und ab bewegten, brachte jedoch den Mechanismus nicht dazu, sich zu drehen.
An diesem Samstag erwachte er früh. Er hatte unruhig geschlafen und machte sich auf den Weg zur Banja , um zu schwitzen und abgeschrubbt zu werden. Seine Eskorte wartete draußen. Hinterher fühlte er sich leichter, und der Mief in seinem Kopf hatte sich verzogen. Moskau war immer noch kalt, aber wolkenlos, und die Luft war zur Abwechslung angenehm zu atmen. Er sagte seinen Wächtern, dass er einen Spaziergang machen wollte. Der Fahrer blieb im Auto; der Blonde folgte ihm mit fünf Metern Abstand. Lock schlenderte zum Roten Platz, er füllte seine Lungen, entschlossen, den Tag zu nutzen, um sich selbst und Malin davon zu überzeugen, dass sein Lebensgeist noch nicht gebrochen war.
Er wollte etwas machen, was er noch nie gemacht hatte: den Kreml besuchen. Vielleicht würde es ihm guttun, hinter diese gewaltigen roten Mauern zu blicken. Der Kreml war immer noch das dunkle, unbegreifliche Zentrum aller Dinge, eine stille Drohung für alle Russen. Wenn der Kreml wollte, konnte er einen ins Exil schicken, ins Gefängnis stecken, einem alles nehmen, was man hatte. Man gehörte ihm. Selbst Malin war ihm gegenüber vorsichtig, als wäre er eine
willkürliche und fremde Macht. In dieser mysteriösen Zitadelle am Fluss arbeiteten Menschen, redeten miteinander und trafen Entscheidungen, und Malin kannte die meisten von ihnen. Dennoch sprach er vom Kreml nicht wie von einer Gruppe von Politikern und Beamten, sondern wie von einer furchterregenden Kreatur, die einen für die kleinste Kränkung oder einfach aus einer Laune heraus zerreißen konnte. Lock für seinen Teil fühlte sich durch ihn eingeschüchtert und ein wenig verängstigt. Er betete, dass der Kreml niemals Grund haben würde, ihn überhaupt zu bemerken.
Am Kiosk auf der anderen Seite des Roten Platzes kaufte er zwei Eintrittskarten, eine für sich selbst und eine für seinen blonden Begleiter, der sie etwas unbeholfen in Empfang nahm. Inmitten von Touristengruppen passierte er das breite hölzerne Tor in der Außenmauer und gelangte in eine lange, von Bäumen gesäumte Allee. Es verblüffte ihn, wie schön die Gebäude waren und wie makellos alles in Ordnung gehalten wurde – die Wege waren sauber, die Ränder geschnitten, das Gras selbst jetzt im Winter noch ein sattes Grün. Russische Regierungsgebäude sahen sonst anders aus. Sie waren schmuddelig und praktisch. Dies hier war hell und heiter, erfüllt vom Geist des Landes, das es regierte. Die riesigen Bürogebäude hatten einen maisgelben Anstrich und eine rationalistische Ausstrahlung, die überhaupt nicht zum reinen Weiß und den goldenen Kuppeln der Zwiebeltürme der Kirchen und
Weitere Kostenlose Bücher