Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition)
selbst hätte aufsetzen können, wenn er einigermaßen gelenkig war. Aber ein Selbstmörder schoss sich wohl nicht ausgerechnet in den Hinterkopf, außerdem hätte die Waffe dann irgendwo liegen müssen.
Draußen vor der Küche polterte etwas. Meine Nackenhaare sträubten sich. Dann verstummte das Geräusch. Ich schlich in die Küche und blickte aus dem Fenster. Ein alter Mann, den ich schon einige Male gesehen hatte, fegte die Straße. Eine seltsame Zeit für diese Arbeit. Auf seinen Fersen folgte eine schwarz-weiß gefleckte Katze, die plötzlich den Kopf drehte und mich ansah. Ihre Augen verengten sich, und sie sprang mit einem Satz auf das Fensterbrett. Ich zog mich hastig zurück, denn ich wollte nicht, dass das Tier meine Anwesenheit verriet. Vielleicht warteten diejenigen, die den Toten in Davids Wohnung gebracht hatten, irgendwo in der Nähe auf meine Reaktion. Aber war die Leiche tatsächlich für mich ausgelegt worden, oder versuchte jemand, David einen Mord in die Schuhe zu schieben?
Oder war David selbst der Mörder? Daniel Lanotte, der die Wohnung gemietet hatte, konnte spurlos verschwinden, und nur ich kannte seine wahre Identität. Glaubte David, ich würde ihn nicht verraten? Oder lag er irgendwo, genauso leblos wie der namenlose Mann auf seinem Sofa?
Eins blieb mir noch zu tun. Ich wollte herausfinden, was David in den verschlossenen Kommodenschubladen aufbewahrte. Aber jetzt hatte ich keine Zeit mehr, mit einem Messer herumzufummeln. Ich holte ein kleines Fleischerbeil, das zur Ausstattung der Wohnung gehörte, und einen Kuhfuß aus dem Besenschrank. Obwohl es mir um das schöne Holz leidtat, spaltete ich die Deckplatte der Kommode und zwang die Hälften mit dem Kuhfuß auseinander. Das Holz knarzte wütend, und ich war mir sicher, dass der Tischler, der das Möbelstück gebaut hatte, mich vom Rand seiner Wolke aus verfluchte.
In der oberen Schublade lag ein mit rotem Lack versiegelter großer Briefumschlag. Er war aus festem, weißem Papier und unbeschriftet. Ich hob die obere Schublade an, um den Inhalt der unteren zu sehen. Was ich fand, war weder eine Schusswaffe noch ein Messer, sondern ein Fernrohr aus Messing. War es tatsächlich ein Fernrohr? Als ich hineinspähte und die bunten Glasstücke sah, begriff ich, dass es sich um ein Kaleidoskop handelte. Warum in aller Welt hatte David ein Kaleidoskop in der Schublade eingeschlossen? Waren das überhaupt Davids Sachen, oder gehörten sie dem Besitzer der Wohnung? Konnte das Kaleidoskop als Versteck dienen? In das Rohr passte alles Mögliche, Mikrofilme zum Beispiel oder Drogen.
Die Dorfuhr schlug halb elf. Wenn ich sofort losfuhr, würde ich in einem der Dörfer in der Umgebung vielleicht noch eine Unterkunft finden. Aber was sollte ich mit den Sachen tun, die ich in den Schubladen entdeckt hatte? Nach kurzem Überlegen beschloss ich, sie mitzunehmen. Die Mörder des Unbekannten hatten nicht gewusst, dass die Kommode etwas Wichtiges enthielt. Also war ich ihnen einen Schritt voraus. Ich versteckte das Kaleidoskop und den Umschlag in meinem Schmutzwäschebeutel. Dann rief ich noch einmal David an. Diesmal kam keine Ansage, der Teilnehmer sei nicht zu erreichen. Stattdessen hörte ich im Wohnzimmer ein Handy klingeln.
Ich ging hin, und als das Klingeln verstummte, rief ich erneut an. Das Geräusch schien vom Sofa zu kommen. Vorsichtig näherte ich mich der Leiche. Ich hatte nur die Gesäßtaschen des Mannes untersucht, nicht die Brusttaschen seiner Jacke. Davids Handy steckte entweder dort, oder es lag unter dem Körper.
Was um Himmels willen sollte ich tun? Mein Kopf war völlig durcheinander. Ich musste das Haus verlassen, sofort. Bei meinem eigenen Handy konnte ich die Liste der getätigten Anrufe löschen, aber was nutzte das? Das Handy, das man bei dem Toten finden würde, verzeichnete Anrufe von meinem Anschluss. Ich durfte nicht riskieren, dass es irgendwen auf meine Spur führte. Mein Herz schlug so laut, dass man es sicher bis zur Festung hörte, und meine Hände zitterten, als ich endlich wagte, die Brusttaschen des Toten abzutasten. Das Handy steckte in der Tasche über seinem Herzen. Ich nahm es heraus und schaltete es auf stumm, dann steckte ich es in meine Handtasche. Sobald ich überprüft hatte, welche Anschlüsse von dem Apparat angerufen worden waren, würde ich ihn verschwinden lassen.
Ich schloss meinen Koffer und brachte ihn an die Tür. Mit einer Verbeugung vor dem Toten nahm ich eine gelbe Tulpe aus der Vase und legte
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