Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition)
ging ins Wohnzimmer. Schon bevor ich das Licht einschaltete, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Es roch nach Sekreten, nach Schweiß und Urin. Meine Nase nahm auch Pulvergeruch wahr und …
Das Blut rauschte mir im Kopf, als ich die Deckenlampe anknipste. Anfangs entdeckte ich nichts Auffälliges, denn das eine Sofa verdeckte die Sicht auf das andere, das am Fenster stand. Doch als ich näher trat, sah ich, was dort lag: ein Mann, mit dem Rücken zu mir, das Gesicht in den Kissen vergraben. In dem von schwarzen Locken bedeckten Hinterkopf klaffte ein blutiges Loch, und auf das Sofa und den Fußboden war Blut geströmt. Der Pulvergeruch hing noch in der Luft, also konnte es nicht allzu lange her sein, seit der Schuss gefallen war. Der Körper hob und senkte sich nicht, er war vollkommen reglos, und ich brauchte nicht näher heranzugehen, um zu wissen, dass der Mann auf dem Sofa tot war.
3
Nach und nach begriff ich, dass der Tote auf dem Sofa nicht David war. Er war viel kleiner, schätzungsweise eins siebzig, und schmächtig wie ein Teenager. Seine Haare waren länger als Davids und von Natur aus gelockt. Er trug eine helle Baumwollhose und einen braunen Lederblazer, aber weder Schuhe noch Strümpfe.
Ich verließ das Wohnzimmer, ängstlich darauf bedacht, keine Spuren zu hinterlassen, und ging zurück in die Küche. Unter der Spüle lagen Plastiktüten. Ich wickelte mir zwei davon als Schutz um die Füße und eine um die rechte Hand. Dann schlich ich vorsichtig zum Schlafzimmer und machte Licht. Nachdem ich mich von der Tür aus vergewissert hatte, dass dort keine weiteren Leichen lagen, betrat ich das Zimmer und spähte unter das Bett, wo ich jedoch nur eine schmale Teppichrolle entdeckte. Die Handschuhe, die ich für alle Fälle im Koffer hatte, waren praktischer als die Plastiktüte. Ich zog sie an und band mir ein Tuch über die Haare. Natürlich war die Wohnung voller Fingerabdrücke von David und mir. Soweit ich wusste, waren meine Abdrücke nirgends registriert, aber ganz sicher konnte man nie sein. Hastig packte ich meinen Koffer, denn ich vermochte die Nacht nicht in einer Wohnung zu verbringen, in der eine Leiche lag. Sobald ich weit genug von Montemassi entfernt war, würde ich meinen Fund anonym bei der Polizei melden. Zum Glück gab es in Italien noch Telefonzellen.
Meine verdammte Neugier und das Wissen, dass ich im Wohnzimmer zwei Bücher liegengelassen hatte, führten mich zurück zu der Leiche. Sie war noch warm und beweglich. Vorsichtig drehte ich den Kopf des Mannes zur Seite, obwohl ich wusste, dass ich damit Spuren verwischte und meine ohnehin prekäre Lage verschlimmerte. Aber ich musste nachsehen, ob ich den Mann kannte. Die Kugel war offenbar in seinem Gehirn stecken geblieben, denn sein Gesicht war unversehrt. Es war vollkommen ausdruckslos. Die braunen Augen standen offen, die dünnen, blutleeren Lippen und der kleine dunkle Schnurrbart wirkten wie das Werk eines untalentierten Malers, leblos und unpersönlich. Das Alter des Mannes war schwer zu schätzen, er mochte zwischen fünfundzwanzig und vierzig gewesen sein. Um den Hals hing ein kleines goldenes Kreuz, das Symbol der Lutheraner wie der Katholiken. Das Leben des Mannes hatte es nicht schützen können, aber vielleicht würde es seine Seele behüten.
Ich kannte den Mann nicht.
Behutsam bettete ich den Kopf des Toten wieder auf die Sofakissen. Zum Glück steckten meine Füße in Plastiktüten, sonst hätte sein Urin meine Schuhe getränkt. Ich zwang mich, nach einem Portemonnaie zu suchen, doch zumindest in den Hosentaschen fand ich keins. Der Mann trug weder eine Uhr noch Ringe. Er war barfuß. Auf den Zehen und Fußrücken sprossen wellige schwarze Haare.
Ich sah mich im Zimmer um, suchte nach den Schuhen des Unbekannten und nach der Mordwaffe. Warum hatte man ihm die Schuhe ausgezogen? Welche Art von Schuhen hätte dazu beitragen können, ihn zu identifizieren? Vielleicht maßgearbeitete, handgefertigte. Aufgrund der Lage der Leiche konnte ich nicht feststellen, ob ein Bein kürzer war als das andere. Falls ja, hätte er Maßschuhe mit speziellen Einlagen gebraucht.
Was ließ sich daraus schließen, dass keinerlei Kampfspuren zu sehen waren? War der Raum nach der Tat gesäubert worden, oder hatte sich der Mann ohne Gegenwehr in sein Schicksal ergeben? Auch seine Position auf dem Sofa war merkwürdig, als sei er im Schlaf überrascht worden. Die Eintrittswunde befand sich an einer Stelle, an der der Mann die Waffe auch
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