Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition)
ich es wagen, schon von hier aus die Polizei anzurufen, falls ich eine Telefonzelle fand? In dem kleinen Dorf würde man sich an jeden Fremden erinnern. Es war besser, den Anruf erst in Siena zu tätigen. Bei Tageslicht merkte ich, dass schon vor der Bar ein Schild auf die Locanda hinwies. Wieso war es mir am Abend nicht aufgefallen? War ich so unachtsam gewesen? Doch dann erinnerte mich, dass gestern gerade hier ein Lkw gestanden hatte.
Ich setzte mich auf eine Bank, von der man einen weiten Blick nach Osten hatte, über die schwellenden Hügel, hinunter ins Tal und weit nach Nordosten zum Monte Amiata. Am Abhang standen Häuser an schmalen, steilen Straßen; mir war unbegreiflich, wie dort zwei Wagen aneinander vorbeikommen sollten und wie die Handbremsen der Schwerkraft trotzten. Von der Straße im Tal, die von Grossetto nach Siena führte, drang gedämpfter Verkehrslärm herauf. Es war so warm und windstill, dass ich die Jacke auszog, doch hinter dem Amiata stieg eine Wolkenfront auf. Schwalben schwirrten über mir, machten wilde Sturzflüge, ließen sich von einem kleinen Windhauch nach oben tragen, flogen aus purer Freude am Fliegen. An einem Haus ganz in der Nähe blühte eine Kletterrose, und einige hundert Meter weiter leuchtete das rote Blütenmeer eines Mohnfeldes. Dennoch hätte ich mich ebenso gut in einer windgepeitschten Sandwüste oder einer kargen Mondlandschaft befinden können. Ich hatte David schon einmal tot geglaubt. Damals hatte ich nur versucht, von einem Tag zum nächsten durchzuhalten, hatte die Tage wie Steinbrocken vor mir hergewälzt und mich abends mit ungelenker Dankbarkeit schlafen gelegt wie eine Alkoholikerin, die auf jeden trockenen Tag stolz war. Doch diesmal war David wortlos gegangen, ohne mir zu vertrauen.
Natürlich hatte ich Erklärungen parat. Jemand hatte David gezwungen wegzugehen. Vielleicht hatte man ihm gedroht, mich zu töten, wenn er nicht gehorchte. Aber selbst wenn – er wusste doch, dass auch ich mit Gefahren umgehen konnte und nicht so leicht zu erschrecken war. Ich war es gewohnt, auf mich aufzupassen.
Ich spazierte noch eine Weile lang durch das Dorf und genoss die Aussicht. Einige Dorfbewohner grüßten, viele hatten Waschtag. Die Einwohner von Civitella waren vorsichtige Leute: Die Fenster, an die man heranreichte, waren ausnahmslos mit Gittern oder dicken Läden geschützt. Die Menschen hier wussten, dass man auch in einer Idylle nicht in Sicherheit war.
Gegen elf Uhr machte ich mich auf den Weg nach Siena. Etwa zehn Kilometer hinter Civitella bog ich auf eine Nebenstraße ab und fuhr so lange, bis ich an das Ufer eines Flusses kam, der sich zwischen den Felsen dahinschlängelte. Die Gegend war menschenleer. Ich schaltete Davids Handy ab und nahm den SIM -Chip heraus. Dann legte ich beides hinter den linken Hinterreifen des Punto und setzte zurück. Die zermalmten Reste warf ich in den Fluss, bevor ich auf die Landstraße zurückkehrte. Nachdem ich etwa zwei Kilometer zurückgelegt hatte, kam ich an eine Kreuzung, an der Wegweiser zu den Sehenswürdigkeiten in östlicher Richtung standen. Montalcino, Sant’Antimo … So hieß das Kloster, in dem David Asyl gefunden hatte! Vielleicht würde sein Freund, Bruder Gianni, mir helfen können.
Die Straßen waren so steil und kurvenreich, dass die Fahrt nach Hevonpersiinsaari, dem Ort meiner Kindheit an der Grenze zwischen den Provinzen Savo und Nordkarelien, im Vergleich dazu ein Kinderspiel war. Ich hatte mich nie sklavisch an Tempolimits gehalten und schon so viele Bußgelder wegen überhöhter Geschwindigkeit aufgebrummt bekommen, dass mein Führerschein zeitweise in Gefahr gewesen war, aber jetzt war ich die Schnecke, hinter der sich eine Schlange bildete. Als ich schließlich auf den Randstreifen auswich, rauschte der Fahrer des Wagens, der praktisch an meiner Stoßstange gehangen hatte, mit wütendem Hupen vorbei. Ich hupte zurück, doch das hörte nur noch der Letzte in der Schlange.
Als ich Montalcino erreichte, hielt ich Ausschau nach einer Telefonzelle. Am Marktplatz, gegenüber einer der vielen Weinhandlungen, fand ich eine.
Für den Notruf brauchte man keine Telefonkarte. Ich erklärte auf Englisch, im Dorf Montemassi, in der nach Osten gelegenen Wohnung in einem seit langem zum Verkauf stehenden Haus, liege die Leiche eines erschossenen Mannes. Dann legte ich auf. Es war Sache der Carabinieri, zu entscheiden, was sie unternehmen würden. Vielleicht gar nichts.
Als ich zu meinem Wagen
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