Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition)
sie neben seinen Kopf. Ich wusste nicht, ob die Seele, die in diesem Körper gewohnt hatte, Freund oder Feind gewesen war. Als ich die Wohnung verließ, überlegte ich, was ich mit dem Schlüssel tun sollte. Mitnehmen? Das wäre riskant, denn er brachte mich mit der Wohnung und der Leiche in Verbindung. Schließlich warf ich ihn durch den Briefschlitz, setzte mich in den Punto und ließ vorsichtig den Motor an. Womöglich wurde ich beobachtet. Erst als ich die abschüssige Strecke außerhalb des Dorfs erreichte, wagte ich es, auf achtzig Kilometer zu beschleunigen.
Ich fuhr nach Roccastrada und weiter in östlicher Richtung. Mein Ziel war die Fernstraße nach Siena und Florenz. Ich erinnerte mich, dass David erzählt hatte, in Civitella Marittima gebe es ein gutes Restaurant mit angeschlossenem Bed & Breakfast. Hoffentlich war dort noch jemand auf. Notfalls musste ich im Punto übernachten.
Im Tal roch es nach Thymian. Die Sterne standen am Himmel wie immer, doch die Welt war aus der Bahn geraten. Ich versuchte, nicht an den Toten zu denken, sondern mich auf die Suche nach einem Nachtquartier zu konzentrieren. Es war mir auch in der Vergangenheit schon gelungen, unangenehme Dinge zu verdrängen, ich hatte es früh lernen müssen.
Die Straßen von Civitella Marittima waren steil und kurvenreich. Ich hatte keine Ahnung, wie die Herberge hieß, und entdeckte auch kein Hinweisschild. Also kehrte ich zu der Tankstelle am Dorfeingang zurück, die jedoch geschlossen war. Ich ließ den Wagen am Hügel stehen und setzte meinen Weg zu Fuß fort. Aus einer hell erleuchteten Bar drang Lärm, ein Dutzend Araber saß dort beim Kaffee. Als ich eintrat, spürte ich ihre Blicke auf mir lasten. Der Mann hinter der Theke war dem Aussehen nach ein Einheimischer. Ich fragte ihn, ob er Englisch spreche.
«Nur wenig», antwortete er verlegen.
«Bed and breakfast?»
Ich legte beide Hände an das linke Ohr und neigte den Kopf. Zum Glück brauchte ich keine Schnarchgeräusche zu machen, der Mann verstand mich auch so.
«Dormire!
Alessandro,
Locanda nel Cassero.»
Der Mann fasste mich am Arm und führte mich nach draußen. Er deutete hügelan. Aus seinem Redeschwall reimte ich mir zusammen, dass ich geradeaus und dann rechts gehen musste. Ich beschloss, zuerst zu sondieren, ob ich mit dem Wagen näher heranfahren konnte und ob ich überhaupt ein Quartier bekam. Tatsächlich fand ich ein Gebäude, das nach einem Restaurant aussah, doch es war geschlossen, und einem Schild zufolge hatte die Küche die letzten Bestellungen vor mehr als einer Stunde angenommen.
Aus Erfahrung wusste ich, dass der Arbeitstag in der Gastronomie keineswegs endete, wenn die letzten Gäste gingen. In der Küche waren sicher noch Leute. Ich klopfte an das erste Fenster neben der Tür, denn natürlich hatte ich keine Ahnung, wo sich die Küche befand. Keine Reaktion. Auch am nächsten Fenster blieb der Versuch erfolglos. Die Häuser waren aneinandergebaut, also würde ich um den ganzen Block gehen müssen, um auf die Rückseite zu gelangen. Da merkte ich, dass auf dem Schild auch Telefonnummern standen, bei denen Reisende außerhalb der Öffnungszeiten anrufen konnten, und suchte in der Tasche nach meinem Handy. Genau in dem Moment ging die Restauranttür auf, und eine Katze mit buschigem Fell schlüpfte heraus. Ich rannte zur Tür und schaffte es, einen Fuß über die Schwelle zu schieben, bevor sie zufiel. Die junge Frau, die die Katze hinausgelassen hatte, wirkte erschrocken, erwiderte aber meinen Gruß. Ich fragte auf Englisch, ob Zimmer frei seien, und hatte Glück: Sie nickte und hob zwei Finger. Ich fragte nicht nach dem Preis und verzichtete auch darauf, mir das Zimmer zuerst anzusehen, sondern sagte kurzerhand, ich würde eines nehmen. Daraufhin zeigte mir die Frau, wie ich mein Zimmer, das Belvedere hieß, über eine Treppe mit schmiedeeisernem Geländer erreichen konnte.
Als ich endlich meinen Koffer in das Zimmer geschleppt hatte, war ich so erschöpft, dass ich mich aufs Doppelbett fallen ließ, zu keiner Handlung mehr fähig. Offenbar schlief ich für eine Weile ein, denn ich schrak auf, als die Kirchenuhr zwei schlug. Meine Kleider waren zerknautscht, und im Mund schmeckte ich Trüffel. Als ich den Koffer öffnete und nach der Zahnbürste suchte, fiel das Kaleidoskop auf den Boden. Ich hielt es vor das linke Auge und blickte hindurch. Es sah immer noch aus wie ein normales Kaleidoskop, doch ich würde es öffnen und genau inspizieren müssen, bevor
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