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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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erlebte Welt und ihre Darstellung zusammen, wieder sind sie von ästhetischem Glanz:
    Er sagte das so ernst, er sagte das so schön, der Fluss floss dahin, der Fluss floss dahin. Das staubbedeckte Laub, das dichte und feuchte Laub an den Ufern, der Fluss floss dahin.
    Die Wiederholungsfiguren rhythmisieren den Text und geben einen Halt im Befremdlichen. Sie tragen auch dort, wo die Einheit wieder abbricht:
    Ich will nicht, dass die Eule ruft, schrie sie in einem tonlosen Schluchzen. Und sofort rief die Eule, schwarz auf einem Ast. […] Ich will nicht, dass Daniel sich bewegt. Und Daniel bewegte sich […] Ich will nicht, dass der Vogel fliegt […] Ich will nicht hören, wie der Fluss dahinfließt, und dabei war in der Nähe kein Fluss …
    Wiederkehrende, an sich unauffällige Elemente bilden ein semantisches Netz ( ruhig – leicht – fein – schwerelos – glänzend – weit – Augenblick – schweben – konfus – schwindelig – … ).
    Welche Seltsamkeiten?
    »Dies ist ein Gesichtspunkt, den ihre Übersetzer unbedingt beachten sollten: Gleichgültig, wie seltsam Clarices Prosa in der Übertragung klingt, hört sie sich im Original genauso ungewohnt an.« 3
    Wenn der feinsinnige und seiner Autorin sehr ernsthaft verpflichtete Biograph Benjamin Moser eine solche Pauschalaussage trifft, dann wohl kaum, um den Übersetzern carte blanche zu geben. Vielmehr verstehe ich seine Worte als Aufforderung und Ermutigung, das nicht zu glätten, was »seltsam« ist und bleiben soll.
    Von großer Wichtigkeit scheint mir dabei, im Prozess der Übersetzung fortlaufend zu unterscheiden, um welche Seltsamkeiten es sich handelt – um ursprüngliche oder eigene, erwünschte oder unerwünschte?
    Die Seltsamkeiten, die der Text will und braucht, sind diejenigen der Protagonistin. Was er weder mitbringt noch brauchen kann, sind Seltsamkeiten, die sich aus Differenzen zwischen dem Portugiesischen und dem Deutschen ergeben. Das mag banal klingen, ist es in diesem Fall aber nicht ganz so sehr.
    Geleitete Wahrnehmung
    Ein grundlegendes Beispiel. Die portugiesische Syntax unterscheidet sich von der deutschen unter anderem in der Nachstellung von Adjektiven: zuerst die Kerninformation, dann die näheren Bestimmungen.
    Geht die Wahrnehmung im Text vom Allgemeinen zum Konkreten und gewinnt dabei an Anschaulichkeit und »Seltsamkeit«, so ist das der Weg, den auch die Übersetzung immer wieder zu bahnen hat:
    Und da sie sehr weit weg war von sich und ihrer eigenen Kraft, versuchte sie sich, ohne das Wesen ihres Impulses so richtig zu kennen, mit einem Schmerz zu verbinden, der fühlbarer war und möglicher, einem Schmerz von der Art, die eine Lösung nach sich zog …
    Im Original steht hier kein Relativsatz, sondern simple Adjektive zu »Schmerz«: »versuchte sie sich […] mit einem fühlbareren und möglicheren Schmerz zu verbinden«. Aber wenn man das so übertragen wollte, hinkten wir dem Original hinterher, blieben wohl auch an den »seltsamen« Komparativen hängen, ohne Stütze. Im Original ist der »Schmerz« sofort da, und an diese Stelle im Satz gehört er auch auf Deutsch.
    Befremden dürfen, ja, sollen hingegen syntaktische Brüche wie der folgende:
    Denn die Mutter erhob sich blass und stotternd und sagte – während kalter Zug durch die helle Fensteröffnung drang und beim Blick auf Daniels hartes, geliebtes Gesicht ein Wunsch, mit ihm zu fliehen und zu rennen, Virgínia das Herz weitete, benommen und schwerelos, in einem Impuls nach vorn –, während die Mutter sagte:
    »Habe ich nicht mal das Recht auf einen Sohn?«
    Auf eine Tochter, sollte sie sagen, dachte Virgínia, ohne die Augen von der Tasse zu heben, denn in diesen Momenten hatte selbst das Wiehern eines Pferdes auf der Weide etwas Schneidendes, wie ein trauriges und nachdenkliches Wagnis.
    Die extreme Subjektivität des Erzählens und Wahrnehmens in Der Lüster wird dadurch aufgefangen, dass sie sich im Erzählten unmittelbar abbildet: Die inneren Prozesse spiegeln sich in der Wortfolge wider. Nichts steht zufällig, wo es steht.
    Die exakte Reihenfolge von Wahrnehmung und Reflexion ist entscheidend dafür, dass diese in ihrem Eigensinn nachvollziehbar werden. Die Kunst der großen brasilianischen Autorin ist eine eminent sprachliche (also auch im engeren Sinn literarische). Ihren Ausgangspunkt hat sie freilich in der kompromisslosen Aufrichtigkeit eines inneren Erlebens, das im Schreiben vollzogen wird – und im Lesen wiederum möglich

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