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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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liegen, die Lippen weiß und gelassen, die hochgesteckten Haare aufgelöst, den braunen Strohhut zerdrückt. Dann war es also wirklich sie.
    »Und wer sind Sie?«, rief der Polizeibeamte, der gerade eingetroffen war, als er ihn da stehen sah, bleich, ruhig, klein. Er zögerte einen Augenblick. Dann sah er den Polizisten langsam an und antwortete höflich:
    »Ich bin …«
    »Sagen Sie nichts, sagen Sie nichts, ich weiß schon! Warten Sie … warten Sie. Ach, natürlich, vom Santo-Tomás-Gebäude! Natürlich kenne ich Sie! Ich habe Ihnen doch vor einiger Zeit einen Strafzettel verpasst, weil sie gegen die Einbahnstraße gefahren sind, stimmt’s?« Der Polizist lachte, als er sich daran erinnerte – sämtliche Falten in seinem Gesicht vertieften sich leutselig und unschuldig.
    Er lachte ebenfalls, fuhr sich mit dem Taschentuch feinsinnig über die Lippen.
    »Sie ist also tot, ja?«, fragte er.
    »Allerdings, und der Mistkerl von Fahrer ist mir ausgebüxt. Ich habe schon in der Leichenhalle angerufen, damit sie einen Wagen schicken. Also, hat mich gefreut, Sie wiederzusehen, wirklich sehr gefreut!«
    Da hatte sie also Männer bei sich empfangen. Da hatte sie wirklich Männer bei sich empfangen! Eine Prostituierte, seufzte er. Der Tod hatte für immer unvollendet, was man über sie hätte erfahren können. Unmöglichkeit und Rätsel erschöpften kraftvoll sein Herz. Adriano setzte sich auf die Parkbank, lehnte sich kaum an. Die halb geschlossenen Augen blickten in die Ferne, er atmete schwer, überrascht und zornig. Mit dem Taschentuch glättete er sich langsam die harte, kalte Stirn. Und plötzlich hätte er nicht zu sagen gewusst, ob es vor eisiger Ekstase war oder vor unerträglichem Leid – weil er sie in diesem einzigartigen Moment für immer gewonnen hatte und sie verlor –, plötzlich, in einem ersten Erleben der Scham, spürte er in sich eine schrecklich freie und schmerzliche Bewegung, einen vagen Drang, zu schreien oder zu weinen, etwas Sterbliches, das in seiner Brust eine gewaltsame Lichtung öffnete, vielleicht eine neue Geburt.
    Rio, März 1943
Neapel, November 1944

Luis Ruby
Geleitete Wahrnehmung
    Zur Lektüre und Übersetzung von Der Lüster
    CLARICE LISPECTOR: Liest du eigentlich die Übersetzungen deiner Bücher? Ich zum Beispiel mache das nie, den Ärger spare ich mir.
JORGE AMADO : Mir sind Übersetzungen in Sprachen lieber, die ich nicht lesen kann. In den anderen findet man Fehler, und dann regt man sich drüber auf. Geht dir das auch so?
CLARICE LISPECTOR : Ganz genauso. Von den Übersetzungen meiner Bücher haben zwei mich zufriedengestellt. 1
    »Clarice sagte häufig, dass man ihre Bücher mehrmals lesen müsse, und das gilt besonders für den Lüster . […] Nur wenn man dieses Werk langsam, nachdenklich und unabgelenkt – in jeweils drei oder fünf Seiten am Stück – liest, offenbart Der Lüster seine geniale Hellsichtigkeit.« 2
    Der Lüster ist nach Clarice Lispectors aufsehenerregendem Debüt Nahe dem wilden Herzen ihr zweites Buch. Oberflächlich betrachtet, erzählt der Roman die Geschichte einer jungen Frau, die am Leben scheitert. Tatsächlich präsentiert er den Reichtum ihrer inneren Welt, in all ihrem Ungenügen und all ihrem Überschuss.
    Eigensinn und Ästhetik
    Virgínia ist voller Eigensinn im Wahrnehmen und Handeln, im Sprechen und Denken. Vor allem ist es in seinem Eigensinn präzise und anschaulich, von der ersten Seite an:
    Virgínia spürte die Unsicherheit in ihren nackten Füßen, als stünden sie haltlos über dem ruhigen Kreiseln des Wassers …
    In ihrer exakten Subjektivität wechselt sie von Zerstreutheit zum Erstarren – Innehalten in der Wahrnehmung:
    Den ernsten Mund an den toten Ast der Brücke gepresst, tauchte Virgínia ihren zerstreuten Blick ins Wasser. Plötzlich erstarrte sie, angespannt und leicht:
    »Schau mal!«
 Ihr Erleben ist geprägt von einer Dehnbarkeit der Zeit, von Todesgedanken und Dissoziation, ein Erleben, das sprachlich greifbar wird (und schimmert):
    Ein toter Moment dehnte alles in die Länge. Sie und Daniel waren zwei reglose, für immer unbewegliche Punkte. Aber ich bin schon gestorben, schien sie zu denken, während sie sich von der Brücke löste, als würde sie mit einer Sichel abgeschnitten. Ich bin schon gestorben, dachte sie weiter, und auf fremden Füßen lief ihr weißes Gesicht schwerfällig zu Daniel.
    Neben Brüchen und Unverbundenheiten erlebt Virgínia Momente rhythmischen Fließens. Wieder fallen die

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