Der Maedchenmaler
Ilkas Verschwinden. Ich kuschelte mich in die Bettdecke und schloss die Augen.
Wo war Ilka in diesem Augenblick? Wie fühlte sie sich? Es war zwecklos. Ich würde nicht schlafen können.
Es war Morgen, als Ilka wach wurde. Feststellen konnte sie das jedoch erst, als sie auf ihre Armbanduhr schaute. In diesem Zimmer schien keine Zeit zu existieren. Die Rollläden waren immer noch heruntergelassen und schlossen das Draußen aus. Falls es ein Draußen gab. Die Situation war so unwirklich, dass Ilka jede Sicherheit verloren hatte.
Ob sie es wagen sollte, die Rollläden hochzuziehen? Oder würde das einen solchen Lärm machen, dass Ruben es hörte?
Wie dicht die Stille war. Als gäbe es nur diesen Raum auf der Welt.
Ilka lauschte. Dann erhob sie sich langsam und reckte die Arme. Sie bekam den Gurt zu fassen und zog vorsichtig daran. Es tat sich nichts. Wahrscheinlich verhinderte irgendein Mechanismus, dass Unbefugte die Rollläden bewegen konnten.
Deprimiert ließ sie die Arme sinken. Sie stieg vom Bett und ging im Zimmer umher. Der Sekretär hätte unter anderen Umständen einladend auf sie gewirkt. Vielleicht hätte sie Lust gehabt, sich hinzusetzen und einen Brief zu schreiben. Oder ein Gedicht.
Das tat sie manchmal, Gedichte schreiben. Sie hatte sie noch keinem gezeigt, nicht mal Mike, obwohl er sie vielleicht verstanden hätte. Auch Lara hatte sie nichts von den Gedichten erzählt. Weil es Laras Job gewesen wäre, die Zeilen einzeln zu zerpflücken. Bestimmt hatte sie kluge Seminare zu diesem Thema besucht.
Die Bedeutung des Unterbewusstseins für das Gedicht
. Oder umgekehrt.
Was war eigentlich der Unterschied zwischen
unterbewusst
und
unbewusst
? Das hätte sie Lara jetzt gern gefragt. Die musste so was doch wissen. Schließlich hatte sie Psychologie studiert.
Lieber Gott, dachte sie. Lass mich aufwachen und das alles nicht passiert sein. Aber der liebe Gott hatte ihre Gebete nie erhört. Warum sollte er jetzt ein Einsehen haben?
Sie sehnte sich nach einer Dusche. Sie hatte das Gefühl, am ganzen Körper schmutzig zu sein. Besudelt. Von Rubens Händen. Von dem verschütteten Betäubungsmittel. Von der unruhigen Nacht in ihren verschwitzten Klamotten.
Was hätte sie dafür gegeben, saubere Wäsche anziehen zu dürfen. Frische Luft einzuatmen. Das Tageslicht zu sehen. Es war jetzt kurz nach acht. War es draußen schon hell?
Sie spürte, wie die Angst in ihr lauerte. Es war gefährlich, sich ihr auszuliefern. Ilka setzte sich im Lotussitz auf den Boden und machte die Augen zu. Yoga half immer, wenn sie sich selbst blockierte. Vielleicht war auch diesmal darauf Verlass.
Ruhig konzentrierte sie sich auf ihre Atmung. Füllte ihren Kopf und ihren Körper mit Ruhe. Bündelte ihre Gedanken und verschloss sie tief in sich. Sie musste nicht in diesem Zimmer bleiben. Sie konnte in sich selbst verschwinden. Da würde ihr niemand was tun.
Er hatte in der Nacht ein paarmal nach ihr geschaut. Sie hatte tief geschlafen, zusammengerollt wie ein Fötus. Fast war er eifersüchtig gewesen auf ihren Schlaf. Ihm gab Ilka sich hin, ohne Bedenken, ohne Angst.
Für Ruben war die Nacht kurz gewesen. Er hatte eine Weile auf dem Sofa gelegen und gedöst, bereit, sofort aufzuspringen, falls Ilka nach ihm gerufen hätte. Er brauchte nicht viel Schlaf, vier Stunden waren genug.
Er hatte Brötchen aufgebacken. Ilka liebte es, wenn sie noch warm waren. Sie war verrückt nach frisch gepresstem Orangensaft und einem weich gekochten Ei zum Frühstück. Das alles sollte sie bekommen. Es sollte ihr an nichts fehlen.
Ruben hatte Geschirr mit einem altmodischen Blumenmuster gekauft, ähnlich dem, das sie zu Hause gehabt hatten. Vielleicht würde der vertraute Anblick sie besänftigen. Wusste sie denn nicht, dass ihre Widerborstigkeit ihr nur schaden konnte?
»Sie wird es lernen«, sagte er und stellte den Brotkorb und ein Gedeck auf das Tablett. »Es bleibt ihr gar nichts anderes übrig.«
Er hatte sich angewöhnt, mit sich selbst zu reden. Das häufige Alleinsein war schuld daran. Doch das würde sich jetzt ändern. Er war nicht mehr allein. Nie wieder würde er die Qualen der Einsamkeit aushalten müssen. Nie wieder.
Er drehte den Deckel der Thermoskanne zu und kontrollierte noch einmal, ob er auch an alles gedacht hatte. Brötchen, Butter, Honig, Marmelade, Käse, Orangensaft, Ei, Salzstreuer, Zuckerschale und Milchkännchen. Perfekt. Er hob das Tablett auf, nahm die Schlüssel und ging nach unten.
Sie
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