Der männliche Makel: Roman (German Edition)
Autoschlüssel greife. Elkas Englisch ist so miserabel, dass sie im Supermarkt kaum zurechtkommt, und dennoch wirft sie locker mit beeindruckenden Wörtern wie »Steuerbescheinigung über alle bisherigen Gehaltsansprüche« um sich?
»Elka«, erwidere ich, um die Sache abzukürzen, denn inzwischen bin ich eine gute Viertelstunde zu spät dran. »Darf ich dich darauf hinweisen, dass du Lily schließlich nicht jeden und den ganzen Tag hüten musst? Sie ist gerade in den Kindergarten gekommen und täglich bis zum frühen Nachmittag dort, weshalb du gute fünf Stunden Pause hast. Außerdem erwartet niemand von dir, dass du auch noch Hausarbeit machst. Ich beschäftige eine Putzfrau, einen Gärtner und einen Hausmeister, die hier alles im Griff haben. Also verzeih mir, wenn ich finde, dass du verglichen mit vielen anderen Leuten ein ziemlich lockeres Leben führst.«
Doch der feuerspeiende Drache lässt sich nicht erweichen. Mit verschränkten Armen und zusammengekniffenen Augen steht sie da.
»Du horst mir nicht richtig zu. Ich kündige. Ende der Woche bin ich weg. Tut mir leid, aber es ist Schluss.«
Mir bleibt nichts anderes übrig, als kurz zu nicken, der Versuchung zu widerstehen, die Haustür hinter mir zuzuknallen, und so ruhig wie möglich ins Auto zu steigen. Sie darf nicht merken, was für einen Magenschwinger sie mir gerade verpasst hat.
Als ich auf dem Weg zur Arbeit an einer roten Ampel halte, stelle ich fest, dass ich links ranfahren muss, denn plötzlich spüre ich ein Brennen in der Magengrube und bin machtlos dagegen, dass mir die Tränen kommen. Ja, da ist sie wieder, meine tägliche Panikattacke. Herrje, ich könnte beinahe die Uhr danach stellen. Und schon ist es da, das scheußliche, nicht zu unterdrückende Schluchzen, ausgelöst von Erschöpfung und Müdigkeit. Grund ist, dass ich mir seit … oh, mittlerweile sieben Jahren … keine Atempause gegönnt habe. Ich kann nichts dagegen tun.
Gütiger Himmel, noch nicht mal sechs Uhr morgens, verdammt, und ich werde beim bloßen Gedanken an den bevorstehenden Tag bereits niedergeschlagen.
Ich bin mir noch nie im Leben so zerrissen vorgekommen. Nicht nur in zwei Hälften, das heißt zwischen der Redaktion und zu Hause. Das würde ich schaffen, das wäre kein Problem. Die Sache ist nur, dass mein Job nicht einfach nur ein Job ist, sondern mit neunhundertneunundneunzig Unterjobs einhergeht, weshalb es sich so anfühlt, als würde aus tausend Richtungen an mir gezerrt. Und offen gestanden gibt es inzwischen viel zu häufig Momente, in denen ich nicht mehr weiß, wie lange das noch so weitergehen kann.
Ach, was zum Teufel ist nur los mit mir?, frage ich laut, während ich panisch meine Handtasche nach einem Taschentuch durchwühle. Bin das wirklich ich, Eloise Elliot, die sich hier so gehen lässt? Es gab einmal eine Zeit, in der ich genauso viel gearbeitet habe wie heute, ohne dass es mich belastet hätte.
Doch das war AL … ante Lily … inzwischen ist Eloise Elliot ein Schatten ihrer selbst, eine düstere Frau, die von Schuldgefühlen zerfressen wird. Denn heute Nachmittag wird ein knapp dreijähriges kleines Mädchen aus dem Kindergarten nach Hause kommen, übersprudelnd von Geschichten, die seine Mummy nie zu hören kriegen wird.
Und hinzu kommt, dass ich kein Kindermädchen mehr habe. Wieder einmal.
Als im Autoradio die Sechs-Uhr-Nachrichten beginnen, weiß ich, dass dieser Anfall von unverzeihlichem Selbstmitleid jetzt ein Ende haben und ich mich dem neuen Tag stellen muss. Also reiße ich mich nach Kräften zusammen, nehme einen großen Schluck Rescue-Tropfen (der beste Freund einer Redakteurin), verteile mit zitternden Händen Make-up rings um meine verschwollenen und geröteten Augen und fahre weiter.
Unterwegs nehme ich mir so ruhig wie möglich vor, mir eine andere Kinderbetreuungsagentur zu suchen, und hinterlasse Rachel, meiner Assistentin, eine Nachricht, sie solle Vorstellungstermine vereinbaren, sobald sie im Büro ist. Allerdings ist das leichter gesagt als getan, denn die letzte Agentur, bei der ich war, hat mich vor etwa zwei Jahren rausgeschmissen. Ja, ganz richtig, ich bin es, die rausgeschmissen wurde. Natürlich brach daraufhin sofort der Dritte Weltkrieg aus. Ich warf den Leuten dort vor, sie würden viel beschäftigte, berufstätige, alleinerziehende Mütter diskriminieren, deren Job nun einmal diese abstrus langen Arbeitszeiten nötig mache. Die Retourkutsche bestand darin, mich als arbeitssüchtige Zwangsneurotikerin
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