Der magische Reif
fließenden Gewändern und auffallender Haarpracht bewegten sich entlang einer Folge horizontaler Linien. Wie ein lebendiger Comic-Streifen!
Sam trat einen Schritt näher heran, um sicherzugehen, dass es sich nicht um Halluzinationen handelte. Der Gott mit dem Ibiskopf beherrschte das bewegliche Fresko mit seiner hoch aufragenden Gestalt, majestätisch den Hals und seinen langen Schnabel neigend, als wollte er einem unsichtbaren Pharao die schlichte Krone aufsetzen, die er in den Händen hielt. Nachdem er diese Scheinkrönung vollzogen hatte, richtete er sich langsam wieder auf und begann dieselbe feierliche Geste von Neuem. Zu beiden Seiten seiner Beine schienen kleine Männchen wie eine Horde schelmischer Kinder einen ausgelassenen Tanz aufzuführen. Was auf den ersten Blick wie ein wildes Durcheinander aussah, folgte bei genauerer Betrachtung jedoch einer festen Ordnung: Jede Gruppe für sich bildete eine Einheit, die in einer Endlosschleife immer wieder dieselben Bewegungen vollführte und eine bestimmte Personengruppe darstellte. Unter ihnen tauchte vor allem eine Person immer wieder auf: ein kleiner Mann in einer Tunika, dessen Schädel, im Gegensatz zu allen anderen, glatt rasiert war und der einen Umhängebeutel trug. Setni? Auf jeden Fall war er ihnen in einem ähnlichen Aufzug erschienen, als Lili und Sam ihm damals begegnet waren: kahlköpfig und mit einem Beutel, von dem er sich um keinen Preis trennen wollte. Natürlich war es unmöglich, ihn eindeutig zu identifizieren, dazu waren die in die Wand geritzten Figuren zu skizzenhaft, die Augen nur angedeutet, die Gesichter alle gleich .. . Doch diese eine hatte sehr vertraute Züge. Und schließlich war dies hier ja die Grabkammer des Hohepriesters des Amun, der Ort, wo man ihm die letzte Ehre erwies.
Unter diesem Aspekt untersuchte Sam die Zeichnungen etwas genauer und kam schließlich zu der Erkenntnis, dass jede dieser »Folgen« eine kurze Geschichte darstellte, in deren Mittelpunkt Setni als Hauptfigur stand. Neben Thot, auf der Höhe seines linken Knies, sah man zum Beispiel eine Abfolge kleiner animierter Vignetten – eine andere Bezeichnung fiel Samuel nicht ein -, die ihn als Diener des Tempels zeigten, sich vor einer mächtigen Statue niederwerfend – einer Statue des Amun? Dann wieder wurde er bei seinen rituellen Waschungen in einem der Wasserbecken dargestellt. Auf dem nächsten zog er aus dem Schilf eine Truhe hervor, aus der er mehrere Tafeln nahm -Schrifttafeln, auf denen die Funktionsweise des Sonnensteins erklärt wurde? Oder er kniete vor einer in Stein gemeißelten Sonne, die er mit der Hand berührte, und im Folgenden wachte er am Ufer eines Flusses auf, in der Nähe eines weiteren Sonnensteins . . .
Die nächsten fünf Vignetten zeigten ihn inmitten eisengepanzerter Reiter, die offenbar versuchten, in einen Turm einzudringen. Dann wieder versuchte er auf einer Insel mit wild wuchernder Vegetation drei wütende Gestalten davon abzuhalten, einen halb in der Erde versunkenen Sonnenstein zu zerstören. Ihren dreieckigen Hüten und Säbeln nach zu urteilen, musste es sich um Piraten handeln. Von da an war Setni übrigens nur noch mit einer Nachbildung des Sonnensteins in seiner rechten Hand dargestellt, als wäre er zu seinem Vertreter oder Beschützer geworden. Der Hüter der Sonnensteine . . .
Samuel machte es sich vor den Felszeichnungen bequem, um sie in Ruhe betrachten zu können. Bei einigen Szenen allerdings blieb ihm der Sinn verschlossen – wie die, in der der ehrwürdige Reisende in einer Sänfte getragen wurde und mit einer schmuckbehangenen Prinzessin ein unbekanntes Spiel spielte. Andere waren dafür umso eindeutiger. Besonders eine, in der Setni einen runden Berghügel erforschte und einen Pagodenpalast entdeckte, wo er lange – auf zwei Bildern in Folge – mit einem alten bärtigen Mann mit Stock sprach, dem er auf dem letzten Bild half, sich auf einem Bett auszustrecken. Offensichtlich war hier Qin gemeint. . . Etwas weiter sah man ihn beim Zeichnen einer Art Landkarte – der Karte der Sonnensteine, auf die er so stolz gewesen war! An die fünfzehn dieser kurzen bewegten Szenen schmückten so die große Figur des Gottes Thot, der mit seinen majestätischen Verbeugungen fortfuhr. Setnis fünfzehn große Werke! Die Legende vom Hüter der Sonnensteine!
Doch unter all diesen Darstellungen war eine, die ihn besonders fesselte. Es handelte sich um die letzte Bilderserie unten links auf der Wand. Vielleicht war er nicht
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