Der magische Reiter reiter1
fachmännisch in der Luft.
»Du solltest wissen, dass die Hände, die dieses Werkzeug der Überredung halten, vortrefflich damit umzugehen verstehen. Vielleicht hast du schon von mir gehört. Ich bin Immerez. Hauptmann Immerez.«
Karigan hatte noch nie von ihm gehört, obwohl einem echten Grünen Reiter sein Ruf vielleicht schon zu Ohren gekommen wäre. Ihre Knöchel um die Brosche wurden weiß. Sie schluckte schwer. Ach, könnte sie sich doch nur mit einem Fingerschnippen unsichtbar machen! Die Brosche pulsierte auf einmal warm unter ihrer Hand.
Hauptmann Immerez versteifte sich, die Peitsche erschlaffte in seiner Hand, und er riss weit sein Auge auf. »Wo …?« Er beugte sich vor, und sein Blick irrlichterte umher. »Wo bist du?«
Karigan klappte der Unterkiefer herunter. War er plötzlich auf unerklärliche Weise erblindet? Doch er schien noch deutlich sehen zu können. Nur sie konnte er nicht mehr ausfindig
machen. Sie schaute auf ihren … nein, durch ihren Arm hindurch. Er war wie ein schwacher Schatten und entschieden durchsichtig. Sie stupste mit dem Finger dagegen. Er war fest, aber …
Was immer sie unsichtbar gemacht hatte, wirkte sich auch auf ihr Sehvermögen aus. Das vollgesogene Moos und die Fichten waren plötzlich nicht mehr dunkelgrün, sondern grau. Immerez’ scharlachroter Waffenrock verwandelte sich in ein düsteres Braun. Die Umrisse lösten sich auf, so als versperre ihr eine dichte Wolke den Blick.
Immerez suchte noch immer nach ihr. Er griff nach seinem Schwert, um durch die Berührung des vertrauten Gegenstands Halt zu finden.
Die Unschlüssigkeit und der Schreck, die sie bislang an diese Stelle gefesselt hatten, fielen von ihr ab. Pferd bedurfte keiner Aufforderung, sie ließ einfach die Zügel schießen. Sie jagten den Sturzbach hinunter, und sie vertraute ganz dem Instinkt des Tiers, da der Grauschleier in ihren Augen es ihr unmöglich machte, Kontraste und Tiefe auch nur so weit wahrzunehmen, dass sie Felsen von Wasser unterscheiden konnte.
Einmal wären sie fast kopfüber gestürzt, und Karigan wurde auf Pferds Hals geworfen. Er ging tief in die Knie, rappelte sich jedoch wieder auf und schlitterte weiter durch den Matsch. In halsbrecherischem Tempo raste er um Felsblöcke herum und zwischen Bäumen hindurch, so dass ihr Reitlehrer vor Entsetzen zur Salzsäule erstarrt wäre. Die ganze Zeit stürmte Hauptmann Immerez’ nervöser Hengst hinter ihnen her.
Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis sie die Straße erreichten. Karigan konnte lediglich vermuten, wie sehr die Flucht stromabwärts Pferd gefordert hatte, und doch hetzte
er, als sie unten ankamen, in lang gestrecktem Galopp weiter auf der Straße dahin.
Thursgad und Sarge, oder jedenfalls zwei Männer, die sie für Thursgad und Sarge hielt, tauchten vor ihnen auf. Sie ritten in einem langsamen Trab. Sollte sie umkehren? Die Peitsche pfiff an ihrem Ohr vorbei. Immerez befand sich nur wenige Schritte hinter ihr. Aber sie war unsichtbar. Wie konnte er … ? Sie preschte an den beiden Männern vorbei und erhaschte einen Blick auf ihre verdutzten Mienen.
»Das Pferd!«, riefen sie.
Sie war zwar unsichtbar, doch Pferd nicht. Als sie um eine Biegung kamen, wünschte sie sich, er wäre ebenfalls unsichtbar. Pferd verschwand und ließ lediglich das Echo seiner hämmernden Hufe zurück.
Karigan ritt weiter und hatte das Gefühl, in ein graues Meer getaucht zu sein, dessen Wasser sie von allen Seiten bedrängte. Sie meinte, gegen eine Flut anzukämpfen; ihre Lungen sehnten sich nach Luft. In dem Grau heftete sich eine Düsternis an sie, von der sie den Eindruck hatte, sie könne sich nie mehr davon befreien und müsse darin ertrinken. Sie war ja so erschöpft. Erschöpft und ausgelaugt und verzweifelt in dieser unendlich grauen, grauen Welt.
Dann schimmerten Farben auf, als würden sie neu erschaffen. Ein Pfad tat sich am Straßenrand auf, von rostroten Tannennadeln übersät und von kräftigen grünen Hemlockfichten und ebensolchen Kiefern gesäumt. Kleine weiße Steinbeerblüten wuchsen in Büscheln entlang des Pfads. Die Sonne brach durch die Wolken, und obwohl sie anderenorts in den Wäldern lediglich ein etwas hellerer Grauton zu sein schien, fiel sie entlang des Pfads in goldenen Lichtbahnen durch die Bäume.
Karigan zügelte Pferd und sackte vornüber auf seinen Nacken. Sie konnte durch sein braunes Fell hindurch geradewegs bis zum Waldboden sehen. Er blieb stehen, und sie ließ sich von seinem Rücken auf einen
Weitere Kostenlose Bücher