Der Makedonier
waren nicht nach Aristoteles’ Geschmack. Speusippos zum Beispiel, von dem man annahm, daß er eines Tages den Platz des Meisters einnehmen würde, war so in die Geometrie verliebt, dass er sich einbildete, alle philosophischen Fragen könnten auf die Mathematik zurückgeführt werden. Kunst, Recht, Medizin, Staatsführung, das Wesen der Gesellschaft – für Männer wie Speusippos waren all diese Dinge nur Schatten. Nein, wenn Platon starb, würde es für Aristoteles Zeit zu gehen.
Doch bis dahin gab es noch die Bibliothek, vermutlich die beste in ganz Griechenland, und auch Athen selbst war für jeden, der mit offenen Augen durch die Welt ging, eine Quelle des Wissens. An einem einzigen Abend in den Häusern der Mächtigen konnte Aristoteles oft mehr lernen als in einem ganzen Monat über staubigen Rollen. Er hatte nichts gegen staubige Rollen, im Gegenteil, er mochte sie sehr, aber das Wissen vom Lauf der Dinge hat auch seinen Nutzen. Nicht zuletzt dadurch konnte er Philipp in seinen Briefen wichtige Einzelheiten berichten. Seit Philipp König geworden war, zahlte er Aristoteles ein Gehalt, damit dieser unter seinen Feinden in Athen Augen und Ohren offenhielt.
An dieser Vereinbarung war nichts Geheimes. Jeder wußte, daß Aristoteles mit dem Herrscher der Makedonier aufgewachsen war; zudem ließ er sich ebensogern von anderen für Auskünfte über Philipp bezahlen. Er hätte zwar seinen Freund nie verraten, aber die Herrscher Athens bildeten sich ein, etwas Wichtiges zu erfahren, wenn sie hörten, daß Philipp, von dem die meisten ein halbes Jahr zuvor noch nicht einmal den Namen gekannt hatten, Homer zitieren konnte, ein ausgezeichneter Reiter war und sich nichts aus den sexuellen Aufmerksamkeiten von Knaben machte. Allein die Tatsache, daß er den neuen König von Makedonien beschreiben konnte,hatte Aristoteles zu einem gerngesehenen Gast an den Tafeln gemacht, an denen politische Diskussionen in Mode waren.
Darüber hinaus konnte man annehmen, daß die großen Herren dieser Stadt, trotz ihrer vermutlich ablehnenden Haltung gegenüber der Monarchie als Regierungsform, doch ein gewisses Vergnügen bei dem Gedanken fanden, daß ihr Name in einem Brief auftauchte, der für die Augen eines Königs bestimmt war. Zweifellos steigerte es ihr Selbstwertgefühl, zu wissen, daß sie Erwähnung fanden als Angehörige dieser oder jener Partei, die diese oder jene Politik vertrat. Und außerdem bestand ja immer noch die Möglichkeit, daß dieser junge und unbekannte König das erste Jahr seiner Herrschaft überlebte. Es war nicht undenkbar, daß sein Einfluß eines Tages in den wirren Machtkämpfen der nördlichen Barbaren etwas zählte. Einige der demokratischen Führer Athens hatten Aristoteles sogar Geschenke von nicht unbeträchtlichem Wert angeboten, wenn er ihre Ansichten in Pella bekanntmachte.
Aber Demosthenes gehörte nicht zu ihnen, und zweifellos hätte er auch gern auf die Ehre verzichtet, in einem Brief Erwähnung zu finden, sowohl als häufiger Besucher in Arrhidaios’ Haus wie als Befürworter einer aggressiveren Politik gegen den geschwächten makedonischen Staat. Denn es war anzunehmen, daß Philipp da eine Verbindung sah.
»Es wird viel von einem Feldzug geredet«, schrieb Aristoteles Philipp. »Ich weiß nicht, ob etwas daraus wird. Es wird dauernd von Feldzügen geredet, aber die Athener trennen sich nicht gern von ihrem Geld. Ich fürchte allerdings, du mußt davon ausgehen, daß du Arrhidaios verloren hast. Eine Woche ist vergangen, seit ich deinen Brief abgegeben habe, und ich habe noch nichts von ihm gehört. Wenn er wirklich vorhätte, nach Hause zurückzukehren, hätte er mir sicherlich eine Nachricht für dich üb ermittelt. Da ich ihn nicht zu einer Erklärung zwingen wollte, habe ich ihn nicht noch einmal aufgesucht, aber es deutet nichts darauf hin, daß er eine Reise plant. Er nimmt immer noch Einladungen an, und er hat dem Besitzer seines Hauses nicht mitgeteilt, daß er ausziehen will. Falls Demosthenes’ Intrigen je zu etwas führen sollten, glaube ich, daß du deinen Bruder auf der Seite deiner Feinde finden wirst.«
Aristoteles versiegelte den Brief mit einem Tropfen heißen Wachses und legte ihn in eine Schublade. Am nächsten Morgen sollte ein Schiff nach Methone auslaufen, und einer der Seeleute war ein Makedonier, dem man vertrauen konnte. In einer Woche würde Philipp wissen, daß er verraten worden war.
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PHILIPP WAR BEIM Abendessen, als er erfuhr, daß ein
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