Der Makedonier
eignet? Ich bin sicher, das wird beiden Seiten gelegen kommen. Pleuratos hätte sich diese Stelle vermutlich auch selbst ausgesucht. Nein, es geht nicht darum, was wir gewinnen, indem wir ihn an dieser Stelle zur Schlacht zwingen. Es geht darum, was wir nicht verlieren.«
Deucalion hatte sich immer eingebildet, Philipp zu kennen und ihn zu verstehen wie ein enger, treuer Freund, ja wie ein Bruder. Jahrelang hatte er bei diesem Mann fast wie ein Mitglied seiner Familie gelebt, hatte zugehört, wenn er seine Frau beim Frühstück spielerisch neckte, und hatte aus nächster Nähe seinen Schmerz und seinen Kummer über den Tod seiner Frau miterlebt. Wer hätte ihn besser kennen können?
Doch jetzt lag ein Ausdruck auf dem Gesicht des Königs, den Deucalion noch nie gesehen hatte, der Ausdruck eines Mannes, der von einer Vision heimgesucht wurde, und er wußte, daß er weder den Menschen Philipp noch den Herrscher Philipp vor sich hatte, sondern ein drittesWesen, das ihm fremd war. In diesem Augenblick wußte er, daß Philipp nicht unter ihnen weilte, sondern sich mitten in der Schlacht befand, die bald auf dieser leeren Wiese ausgetragen werden würde, daß er sie in seiner Vorstellung sah, als würde sie jetzt und vor seinen Augen stattfinden. Das Kind seiner Vorstellungskraft war für ihn Wirklichkeit geworden.
Es gab Männer, so hieß es, die mit einer besonderen Begabung für den Krieg geboren wurden, so als hätte Ares sie mit seiner Göttlichkeit berührt. War diese Gabe mit einer gewissen angeborenen Grausamkeit vermischt, die sie blind machte für alles außer den Ruhm des Krieges, so waren diese Männer wirklich gesegnet, doch Philipp war nicht grausam. Da ihm nichts verborgen blieb, blieb ihm auch nichts erspart. Sah er den Sieg, so sah er auch Leiden und Tod. Sah er den Ruhm des Krieges, so sah er auch seine sinnlosen Greuel. In seinem Herzen spürte Deucalion, daß Philipp nicht zu beneiden war.
Der König von Makedonien lächelte, als wollte er mit seinem Willen die Trance brechen. Es war ein Lächeln, das einem das Blut zu Eis erstarren ließ.
»Das Gelände gestattet beiden Seiten vollkommene Bewegungsfreiheit«, sagte Philipp. »Unsere berittenen Einheiten können zusammenbleiben, wie sie es auf zerklüftetem Boden nicht könnten, und unsere Fußtruppen können hier ihre überlegene Disziplin am wirkungsvollsten einsetzen. Wir brauchen jeden Vorteil, der sich uns bietet, denn es wird nicht reichen, Pleuratos nur zu schlagen. Er kann sich zurückziehen und ein paar Tage später wieder angreifen, aber wir können das nicht – dazu sind wir nicht genug. Wenn wir Pleuratos nur schlagen, wird er bald darauf zurückkehren und uns schlagen, denn wir sind dann zu geschwächt, um ihm zu widerstehen. Deshalb müssen wir ihn vollkommen vernichten, oder wir sind verloren. Ein zweites Mal gibt es für uns nicht.«
Pleuratos wurde allmählich ungeduldig. Seit er in Lynkestis war, hatte jeden Tag die Sonne geschienen, und seine Männer waren ausgeruht und in Form. Er hatte Spitzel in makedonisches Gebiet geschickt, doch keiner von ihnen war zurückgekehrt – einige von ihnen hatte man noch innerhalb der illyrischen Linien mit durchschnittener Kehle gefunden –, und er hatte deshalb keine Ahnung von Philipps Stärke und der Art seiner Vorbereitungen. Jeden Tag, den er wartete, fühlte er sich mehr als Opfer unsinniger Ängste. Er wußte, er mußte bald angreifen, denn sonst würde ihn seine Angst zu einem Fehler verleiten. Deshalb gab er am sechsten Tag nach seiner Ankunft in Lynkestis den Befehl zum Aufbrach. Bei Sonnenaufgang sollte seine riesige Armee sich nach Süden in Bewegung setzen.
Er hatte beschlossen, bei einer breiten Lücke zwischen zwei Bergspitzen durchzubrechen, an der schwächsten Stelle der feindlichen Linien. Von seinen Spähtrupps wußte er, daß die Stelle zwar befestigt war, aber nicht sehr, und schon nach einer knappen Stunde leichter Kämpfe war die Gefahr eines Hinterhalts gebannt. Angesichts eines so massiven Angriffs schienen die Verteidiger förmlich dahinzuschmelzen.
Aber in dem Augenblick, als Pleuratos auf dem Scheitel des Passes stand und die breite Wiese sah, die sich zur anderen Seite hin öffnete, begriff er, warum die Makedonier sich mit so unziemlicher Hast zurückgezogen hatten: Es sah beinahe so aus, als hätte Philipp ihn hierher eingeladen.
Aber es war keine Falle. Nachdem er den ersten Schreck über die Erkenntnis, nur einem Köder gefolgt zu sein, überwunden hatte,
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