Der Makedonier
noch kein Wort mit ihm gesprochen hatte. Vermutlich lag es daran, daß er kein Griechisch verstand, aber Philipp war sich dennoch nicht ganz sicher, ob er es wagen konnte einzuschlafen.
Er vermutete allerdings, daß er nicht in unmittelbarer Gefahr war, da der Illyrer bereits mehr als sieben Stunden Zeit zum Handeln gehabt hatte und er kein Mann zu sein schien, der es nötig hatte zu warten, bis der Schlaf sein Opfer wehrlos machte. Er war ein riesiger, wild aussehender Rohling mit einem schwarzen Bart, der direkt unter seinen Augen zu beginnen schien – Augen, die er offensichtlich nie schloß, die ruhelosen Augen eines Raubtiers. Eine Pelzweste bedeckte seine Brust, ließ aber die Arme nackt, und auf dem rechten lief eine Narbe von der Schulter bis zum Ellbogen. Nein, das war kein Mann, der zögern würde zu töten, und außerdem gab es nichts, das ihn hätte abhalten können. Philipp war eine Geisel und trug keine Waffen.
Da er also jetzt noch am Leben war, schloß Philipp, würde er wenigstens so lange leben, bis sie zu König Bardylis kamen. Trotzdem fand er keinen Schlaf.
Drei Tage lang ritten sie durch eine Reihe von Gebirgstälern, von denen Philipp annahm, daß sie nicht zum Stammland der Illyrer gehörten, sondern erobertes Gebiet waren. Auf Weideland, das große Herden von Schafen und Rindern ernährt hätte, standen arme, trostlose Dörfer voller schmutziger Kinder mit vonHunger aufgetriebenen Bäuchen und verzweifelten Augen. Und ihre Eltern wirkten verängstigt: Sie machten einen weiten Bogen um Philipp und seinen Führer, wenn sie ihnen unterwegs begegneten; sie sagten nichts und sahen nicht einmal von der schneeverkrusteten Erde auf, auf der sie standen. Keiner der Männer trug Waffen, und sie sahen aus, als würden sie davonlaufen, wenn sie nur den Mut dazu aufbringen könnten, als hätten Jahrzehnte brutalster Unterwerfung sie die Sinnlosigkeit des Stolzes gelehrt. Philipp hatte noch nie Menschen gesehen, die sich mit solch verängstigter Unterwürfigkeit verhielten, denn unter den Makedoniern war sogar der König ein Mann wie alle anderen auch, vor dem nicht einmal ein gemeiner Bauer sich so erniedrigt hätte.
Es war seltsam, Elend und Schande in einer so großartigen Umgebung zu sehen, denn die Gebirgszüge des Nordens waren so majestätisch, daß Philipp sich fragte, warum die Götter sie den Sterblichen überlassen hatten. Es war aber auch eine grausame Gegend. Obwohl das Sonnenlicht noch stark genug war, um in den Augen zu schmerzen, hatte der Winter bereits eingesetzt, und das Quellwasser, das von den steilen Felswänden heruntertropfte, war zu marmornen Rinnsalen erstarrt. Am blassen Himmel, der so weit schien wie die ganze Schöpfung, zogen Falken ihre anmutigen Kreise, wie stumme Propheten des Todes.
Am frühen Nachmittag des vierten Tages nach der Begegnung am Vatokhoripaß umrundeten Philipp und der Illyrer, dessen Stimme er noch immer nicht gehört hatte, einen Felsvorsprung, der sich als die eine Wand eines schmalen Durchgangs zwischen zwei Bergen erwies. Während sie diesen Steinkorridor, eine natürliche Festung, die problemlos von zwanzig Männern gegen fünfhundert hätte verteidigt werden können, entlangritten, mußte Philipp sich nur umsehen, um überall die Spurenvon Menschenwerk zu entdecken: eine schmale Brustwehr, die etwa fünfzehn Ellen über seinem Kopf aus dem Granit herausgeschlagen worden war, einen Steinhaufen, der so aufgeschichtet war, daß schon ein leichter Stoß genügte, um die Brocken auf Eindringlinge hinunterprasseln zu lassen, zwei im Schatten verborgene Wachhäuschen. Philipp konnte keinen Menschen sehen, aber er spürte, daß er und sein Führer beobachtet wurden. Es war klar, daß sie den Eingang einer Festung erreicht hatten.
Der Durchgang führte zu einer Ebene von etwa zwei Reitstunden Durchmesser, die auf allen Seiten von steilen Felswänden eingeschlossen war. In die Ostwand hineingebaut, aus dieser Entfernung allerdings kaum zu erkennen, war eine Stadt aus Steinhäusern, eine bescheidene im Vergleich zu Pella, aber dennoch eine Stadt. Für die Bewohner dieser Berge war sie vermutlich der Mittelpunkt der Welt.
Philipp und der Illyrer wechselten einen Blick – es war fast so, als fühlte der Mann sich überrumpelt, denn er sah sofort wieder weg – und ritten dann in das schneebedeckte Tal. Kaum eine Viertelstunde war vergangen, als Philipp leises Hufgetrappel hörte, und einige Minuten später sah er etwa hundert Reiter, die in gestrecktem
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