Der Makedonier
Galopp auf sie zukamen.
Etwa fünfzig Schritt von ihnen entfernt wurde der Trupp langsamer und formierte sich zu Reihen von je etwa zwanzig Männern, und als dann nur noch ungefähr acht oder zehn Schritt zwischen ihm und den Neuankömmlingen lagen, blieb er stehen.
Der Führer packte Philipps Zügel und hielt an. Wie es aussah, waren sie am Ziel ihrer Reise angekommen.
Jemand rief etwas in einer Sprache, die Philipp noch nie gehört hatte, und der Illyrer antwortete – er war also doch nicht stumm. Philipp verstand kein Wort, aber er konnte erkennen, daß der Mann in der Mitte der erstenReiterreihe, derjenige, der als erster gesprochen hatte, Bardylis war. Er war nämlich zu alt, um etwas anderes als ein König zu sein.
»Sehr gut, Zolfi«, rief der zerbrechlich wirkende alte Mann, diesmal – vermutlich Philipp zuliebe – in stark illyrisch gefärbtem Griechisch. »Hast du mir endlich meinen Urenkel gebracht?«
»Deine Großmutter war meine zweite Tochter, das Kind meiner dritten Frau«, erklärte Bardylis zwischen zwei Bissen. Er war so dünn, daß er aussah wie ein vertrockneter Leichnam, aber bei dem Festmahl, das zu Ehren seiner Geisel veranstaltet wurde, hatte er, mit der Gier eines wahren Eroberers, Unmengen von Ziegenfleisch und Hirsebrei verschlungen und sie mit zahllosen Schalen Wein hinuntergespült. »Wenigstens in meiner Erinnerung ist das so, bei meinem Alter kann es allerdings schon vorkommen, daß man sich irrt. Ich war Anfang zwanzig, als sie geboren wurde, und ich hatte Besseres zu tun, als mich um kleine Mädchen zu kümmern. Ich weiß nicht mal mehr ihren Namen.
Ich habe sie dem alten Arrhabaios von Lynkestis als Braut für seinen Sohn gegeben. Sie ist im Kindbett gestorben, vierzig Jahre ist das jetzt schon her. Trotzdem hast du durch sie mein Blut in deinen Adern. Ich bin dein Vorfahre, Junge, hahaha!«
Jeder in dem kleinen Raum lachte, sogar Philipp. Er mochte dieses alte Skelett von einem Urgroßvater eigentlich recht gern, obwohl der König ihn mit einer gewissen formlosen Lässigkeit behandelte, die ihm nicht ganz geheuer war.
Sogar Bardylis’ Gefolgsleute lachten, obwohl die meisten von ihnen vermutlich kaum Griechisch verstanden. Sogar Pleuratos lachte.
Bardylis hatte alle seine Söhne überlebt, und so wurde Pleuratos, dessen Vater der Erstgeborene des Königs gewesen war, allgemein als Erbe angesehen. Er stand auf der Schwelle zum mittleren Alter, ein starker Mann von schwerer Statur und sehr ernsthaftem Gebaren, dessen Augen allerdings ein wenig zu klein waren für sein Gesicht und ihm den Ausdruck andauernder Bestürzung verliehen. Bis zu diesem Zeitpunkt war noch kein Wort über seine Lippen gekommen.
Aus Glaukons Beschreibungen des Hoflebens in Pella hatte Philipp gelernt, daß man viel erfahren kann, wenn man nur die Gesichter der Männer bei einem Gelage beobachtet, bei dem jeder den Eindruck machen muß, als vergnüge er sich, in Wahrheit aber keiner sich auch nur einen Augenblick lang entspannen kann. Ein Mann muß ein Narr sein, um Gelage unterhaltsam zu finden, pflegte Glaukon immer zu sagen, denn sie sind doch nur das Fortspinnen von Intrigen in anderer Form. Man braucht sich nur umzusehen, um das zu begreifen. Folge den Augen der Männer und du siehst deutlich, wie die Macht verteilt ist. Die einzigen, die sich bei solchen Anlässen wohl fühlen, sind die Diener.
In Pella hatte Philipp noch nie an einem königlichen Festessen teilgenommen, doch jetzt erkannte er, daß Glaukon die Wahrheit gesprochen hatte. Die Männer aßen, rissen Witze und lachten, aber ihre Augen verloren nie den verängstigten Ausdruck, wenn sie, mit flüchtigen Blicken die Gesichter der anderen absuchend, die Stärke des einen gegen die Schwäche des anderen abwägten und dabei die eigene Stellung zwischen den beiden einzuschätzen versuchten.
Und so wurde Philipp klar, daß Pleuratos nicht nur Bardylis’ Erbe, sondern auch sein Rivale war. Bardylis war jetzt König, aber die Zukunft gehörte Pleuratos, und da die Höflinge in beiden Zeiten leben mußten, waren sie gezwungen, ihre Treue zu teilen. Philipp fragte sich, wieviel Unterstützung Pleuratos bereits genoß. Doch das warvermutlich unwichtig, da die Zeit unweigerlich für ihn arbeitete.
Ein Mädchen, vielleicht acht oder neun Jahre alt, erschien in der Tür zur Küche. Es brachte einen Krug Wein und stellte ihn vor Bardylis auf den Tisch, und es schien ihm nichts auszumachen, als der König ihm zärtlich seinen dünnen Arm um
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