Der Makedonier
hatte ein komisches Gefühl in der Magengrube. Es war eine Art Kummer, und er wußte, daß man ihm den ansah. In diesem Augenblick und zum erstenmal in seinem Leben merkte Philipp, daß er Aristoteles haßte, weil der sich an seinem Leid erfreute. Das Gefühl würde vorübergehen und mit ihm auch die Wut – das wußte er ganz genau –, aber für diese kurze Zeit waren beide nicht zu leugnen.
»Ein Mann wird nicht durch das zum Verräter, was ihm aufgezwungen wird.« Mehr brachte er in diesem Augenblick nicht über die Lippen.
»Laß mich dir eine Frage stellen, Philipp – da wir beide uns schon unser ganzes Leben lang kennen, nehme ich mir die Freiheit.« In Aristoteles’ Gesicht spiegelte sich nun eine Mischung aus Ehrfurcht und Mitleid, als habe er plötzlich erkannt, daß das, was er mit seinen Spitzfindigkeiten aufgewühlt hatte, beinahe schon an eine Tragödie grenzte. »Wenn du an seiner Stelle gezwungen gewesen wärst zu fliehen, um den Ränken deiner Verwandten zu entkommen, hättest du dich dann den Feinden Makedoniens in die Hände gegeben?«
Als Philipp nicht antwortete, schüttelte Aristoteles den Kopf.
»Nein, ich glaube nicht. Du wärst lieber in einem Straßengraben verhungert.«
Während sie schweigend weitergingen, kamen sie an einem Trupp Sklaven vorbei: eine Reihe von acht oder zehn ausgemergelten Gestalten, die apathisch am Straßenrand entlangtrotteten, zusammengehalten von einer langen Kette, die durch Ringe an ihren eisernen Halsbändern lief und an einem mit Steinen beladenen Wagen befestigt war. Ein kräftiger Mann lenkte den Wagen, und den Abschluß des Zuges bildete ein Soldat, der allerdings die Peitsche, die er in der Hand hielt, kaum zu brauchen schien. Diese erbärmlichen Gestalten hatten jeden Gedanken an Widerstand längst aufgegeben.
»Stadtsklaven«, erklärte Aristoteles, wie als Antwort auf eine Frage. »Man sieht das an der Kerbe in ihren Ohren.«
»Dann waren sie wahrscheinlich Kriegsgefangene, deren Familien das Lösegeld nicht bezahlen konnten. Was für ein entsetzliches Schicksal für einen Mann, dessen einziges Verbrechen es war, auf der Verliererseite gekämpft zu haben.«
»Du hast viel zuviel Mitleid, Philipp – vor allem für einen Prinzen. Ein Sklave ist nichts anderes als ein lebendiges Werkzeug.«
»Was ist dann jemand, der im Exil lebt? Diese Männer haben vielleicht für ihr Land gekämpft. Arrhidaios hat nicht einmal das, um seinem Verlust Würde zu verleihen.«
19
ES WAR SPÄTER Nachmittag, als Philipp und Aristoteles vom Besuch des Tempels der Athena zurückkehrten, aber Pammenes wartete nicht im Gasthof auf sie. Statt dessen hatte er die Nachricht geschickt, daß Philipp ihn zum Abendessen im Hause eines gewissen Aristodemos in der Nähe des Dipylon-Tores treffen solle.
»Hast du etwas dagegen, wenn ich dich begleite?« fragte Aristoteles wie jemand, der genau weiß, daß man ihn nicht abweisen wird. »Aristodemos ist einer der reichsten Männer in Athen, einer, der sich gern in die Politik einmischt und berühmte Männer sammelt. Seine Gelage sindberüchtigt für ihre Größe und ihre Unübersichtlichkeit. Kein Mensch wird bemerken, daß ich überhaupt da bin.«
»Wie kann ich dann etwas dagegen haben?«
Sie gingen in die öffentlichen Bäder, um sich den Staub ihres Ausflugs abzuwaschen. Es wurde bereits dunkel, als sie das Dipylon-Tor erreichten, aber sie hatten keine Mühe, Aristodemos’ Haus zu finden. Sie mußten nur dem Lärm folgen.
Als Philipp und Aristoteles eintraten, taumelte ein Mann aus der Tür. Sie drehten sich um und sahen, daß er gebückt an der Hauswand stand und sich übergab.
»Was für ein Schwein!« murmelte Aristoteles kopfschüttelnd, doch Philipp lachte nur.
»Sei doch nicht so streng, mein Freund, denn damit zeigst du nur, daß du an die Gepflogenheiten der Großen dieser Welt nicht gewöhnt bist. Außerdem, wäre das der Hof meines Vaters in Pella, hätte der Kerl sich gar nicht die Mühe gemacht, ins Freie zu gehen, denn dann hätte man ihm halb abgenagte Hammelknochen hinterhergeworfen.«
»Auf jeden Fall nehme ich an, daß sie schon ohne uns angefangen haben.«
Und so war es auch. Ein Festmahl quält sich, nicht weniger als ein Mann, durch Kindheit und Jugend, nur um dann, sobald es erwachsen geworden ist, den Pfad des Verfalls einzuschlagen, der unweigerlich zum Untergang führt. Man merkte sofort, daß diese besondere Festlichkeit das Stadium der vollen Reife schon beinahe überschritten hatte.
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