Der Makedonier
sah auf, als er seinen Namen hörte. Er schien nicht einmal überrascht.
»Mein Vater hat mir geschrieben, daß man dich als Geisel nach Theben geschickt hat«, sagte er im Aufstehen. Die Rolle hing von seiner Hand herab und berührte fast den Boden. »Da du jetzt hier bist, nehme ich an, daß die Bedingungen deiner Gefangenschaft nicht sehr streng sind.«
»Nicht sehr streng, nein. Es ist nicht einmal eine Gefangenschaft. Ich könnte schon morgen nach Makedonien zurückkehren, und die Thebaner würden sich höchstens über meine Hast wundern und mir eine gute Reise wünschen. Sie sind alle sehr nett zu mir. Pammenes ist in diplomatischen Angelegenheiten hier und hat mich mitgenommen, um mir eine Freude zu machen.«
»Pammenes?« Aristoteles schien beeindruckt. »Den würde ich gern kennenlernen, wenn sich das einrichten läßt. Die Thebaner Oligarchen stehen hier in sehr gutem Ruf. Für Platon sind sie Musterbeispiele des aufgeklärten und selbstlosen Herrschers – er hätte es nur gern, wenn sie der Philosophie mehr Beachtung schenken würden.«
»Braucht ein Herrscher denn die Philosophie?«
»Platon glaubt es zumindest. Ich will dich ihm vorstellen. Er hat eine Schwäche für königliches Blut. Und da du ein Prinz bist, wird er uns vielleicht sogar zum Mittagessen einladen. Du wirst ihn sehr unterhaltsam finden…«
Und Platon war wirklich unterhaltsam. Er erwies sich als Mann Anfang Sechzig, weißhaarig, verweichlicht und unglaublich fett. Der Diener, der neben ihm stand und ihm immer wieder die Weinschale füllte, war etwa zwölf Jahre alt, und während der große Philosoph über Sokrates oder das Ideal des Guten oder über die Demütigungen sprach, die seine Schüler ihm zugefügt hatten, glitt seine Hand immer wieder abwesend über Hals und Schultern des Jungen. Trotz dieser kleinen Ablenkung waren seine Ausführungen, vorgetragen mit der Säuselstimme eines Menschen, der keine Leidenschaft unbefriedigt gelassen hat, sehr interessant.
»Es ist gegen alle Prinzipien der Vernunft, daß eine Regierung, die auf Gedeih und Verderb den niedersten Elementen der Gesellschaft ausgeliefert ist, je eine Einheit der Ziele oder die Würde des Ausdrucks erreichen könnte. Auch die besten Männer können aus Schlamm nicht Gold machen, einfach indem sie ihn zwischen den Fingern drücken, und ebenso wird auch der selbstloseste Patriot feststellen müssen, daß es ihn behindert und verderbt, wenn er sich zum reinen Erfüller der Herrschaft des Pöbels machen läßt. Das Ideal einer vernünftigen Politik kann nur erreicht werden, wenn die Macht bei einem einzelnen ruht und dieser ein Philosophenkönig ist. Die Demokratie ist ein Fluch für die Griechen und nicht zuletzt für die Athener, die meinen Meister Sokrates einfach deshalb zum Tode verurteilt haben, weil sie die Vielschichtigkeit seiner Gedanken nicht begreifen konnten. Mein lieber Prinz, du mußt diese Feigen mit etwas Honig versuchen. Das verbessert ganz erstaunlich den Geschmack.«
»Aber Meister, ist denn nicht jede Regierung nur ein Ausdruck der menschlichen Natur, und sollte uns deshalb ihre jeweilige Form nicht gleichgültig sein?« fragte Aristoteles, und ein kaum merkliches, hinterhältiges Grinsen zuckte um seine Mundwinkel. »Dein Erlebnis mit Dion von Syrakus…«
Wer Augen hatte zu sehen, dem enthüllte der Blick, den Schüler und Lehrer tauschten – das kurze Aufblitzen der Verärgerung, die aber sofort wieder unterdrückt und mit einem Lachen und einem geringschätzigen Abwinken überdeckt wurde –, viel, und Philipp erkannte, mit dem leichten Erschrecken, das uns immer befällt, wenn wir unsere Meinung über Vertrautes ändern müssen, daß Platon, trotz seines Alters und seines Rufs, ein wenig Angst hatte vor Aristoteles und daß Aristoteles das wußte. Und gleichzeitig war er enttäuscht darüber, daß ihn das überraschte. Platon hatte wohl erkannt, daß der Arztsohn aus Pella der begabteste seiner Schüler war, und warum sollte er in einer Welt, in der geistige Beweglichkeit alles zählte, nicht ein wenig Angst vor ihm haben?
»O ja, dieser elende Mensch – was für eine Enttäuschung!« Platon seufzte wie ein Schauspieler in einer schlechten Tragödie und tröstete sich mit einem Schluck Wein und einem Blick auf seinen Diener. »Ich habe ja nur davon gesprochen, was sein könnte. Ein Tyrann kann klug oder ein Narr sein, tugendhaft oder verbrecherisch, ein Segen für seine Untertanen oder ein Fluch. Alles ist möglich, sogar die
Weitere Kostenlose Bücher