Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
war vorüber, und die Gläubigen schoben sich schweigend durch den Ausgang der Kirche Santa Croce ins Freie. Draußen in der Sonne aber begann man sogleich zu plaudern und die Neuigkeiten der vergangenen Tage auszutauschen.
Leonardo war unbemerkt in der Kirche zurückgeblieben. Er stand vor einem Holzbildnis der Maria Magdalena und schaute mit einer Mischung aus Ehrerbietung und Bewunderung zu der schönen Figur mit den leuchtenden Farben auf. Ihm war, als habe er die ebenmäßigen Gesichtszüge der Statue schon einmal gesehen, und das nicht in der Kirche.
Die Frau in der Grotte!, fiel es ihm plötzlich ein. Die Begegnung mit ihr lag schon fast drei Jahre zurück, aber er hatte sie nicht vergessen. Dass ihm die Ähnlichkeit mit dem Marienbildnis erst jetzt auffiel, war wohl dem Umstand geschuldet, dass seine Familie nie in den Seitenflügel der Kirche kam, in dem das Bildnis hing.
»Das ist eine Arbeit von Neri di Bicci, einem Schüler von Donatello.«
Leonardo hatte den Pfarrer nicht kommen hören und zuckte zusammen, als plötzlich dessen Stimme hinter ihm laut wurde. »Ich… äh, …ich finde sie sehr schön«, stotterte er und fragte sich, wieso er sich ertappt fühlte.
»Dann hast du einen guten Geschmack, junger Mann«, sagte der Pfarrer freundlich. Er sah Leonardo von der Seite an. »Du bist doch der Sohn von Notar Ser Piero da Vinci, oder? Wenn ich mich nicht irre, bist du in dieser Kirche getauft worden.«
»Das stimmt, Hochwürden. Vor vierzehn Jahren.«
Der Pfarrer nickte. »So lange und doch so kurz«, bemerkte er. »Aber wie schnell die Zeit vergeht, wirst du gewiss noch nicht verspüren.«
»Die Tage erscheinen oft kurz, aber die Jahre lang.«
»Glaub mir, auch die Jahre werden dir immer kürzer erscheinen, bis sie an dir vorüberschnellen wie ein reißender Fluss.«
Leonardo sah den Pfarrer jetzt mit größerer Aufmerksamkeit an. Der Mann war runzlig wie ein überjähriger Apfel, und unter seinen Augen lagen dunkle Ringe, als sei ihm sein gottesfürchtiges Leben nicht gut bekommen.
Frauen sind schön, wenn sie makellos sind, dachte er, während er sich wieder dem Marienbildnis zuwandte, und Männer, wenn die Jahre sie gezeichnet haben. Aber er sagte etwas anderes: »Ich wünschte, ich könnte auch solche schönen Bildnisse machen…«
»Eine Kunst, die du lernen kannst, wenn du Talent hast. Hast du Talent, Leonardo?«
»Ich kann zeichnen.«
»Das ist schon mal ein Anfang.«
»Ich werde wahrscheinlich bei Verrocchio in die Lehre gehen.«
»So? Dem jungen Verrocchio, nehme ich an. Andrea?«
Leonardo nickte. »Mein Vater hat ihm einige meiner Zeichnungen gezeigt, und er sagt, dass der Meister davon angetan war.«
»So? Dann sieht es gut für dich aus.«
»Mein Vater hat ein Amt in Florenz übernommen. Sobald wir umgezogen sind…«
Leonardo verstummte. Wieder einmal brach das Bewusstsein über ihn herein, dass sich sein Leben bald drastisch verändern würde. Das war wie eine mächtige Woge; im einen Moment dachte er kaum daran, im nächsten warf es ihn fast um. Er würde in der Werkstatt von Verrocchio arbeiten und wohnen müssen, zusammen mit anderen Lehrlingen. Vorbei die Zeit, da er in der freien Natur umherstreifen und mehr oder weniger machen konnte, was er wollte. Er würde sich daran gewöhnen müssen, in der Stadt eingesperrt zu sein und ständig unter Aufsicht zu stehen. Fortan würde sein Tun und Lassen den Launen eines Meisters unterworfen sein, den er bisher nur dem Namen nach kannte. Und das vielleicht für viele Jahre. Falls Verrocchio ihn nicht für ungeeignet hielt. Das wäre vielleicht eine Möglichkeit, der Kandare zu entkommen, dachte Leonardo. Aber er wusste, dass er es nicht fertigbringen würde, absichtlich zu stümpern, das ginge gegen sein Ehrgefühl. Außerdem wollte er die Malerei ja wirklich erlernen, wollte all jenen wunderbaren Bildern und Szenen Gestalt verleihen können, die in seinem Geist gefangen waren und gleichsam danach schrien, das Licht der Welt erblicken zu dürfen.
»Ich wünsche dir viel Glück und Erfolg«, sagte der Pfarrer. »Mit Gottes Hilfe wird es sich schon fügen.«
Und damit schlurfte er davon, ein wenig gekrümmt und die Hände auf dem Bauch gefaltet.
Leonardo wandte sich noch einmal dem Bildnis der Maria Magdalena zu. »Auch dir viel Glück«, flüsterte er so leise, dass nur er selbst es hören konnte.
Leonardo erfuhr das vom Arno durchschnittene Florenz als überwältigend. Meilenlange, hohe Stadtmauern mit mehreren Dutzend
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