Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
sich nur im Kopf abspielte.
Es kam durch seine neue Umgebung. Ein ungewohntes Bett in einem ungewohnten Zimmer, Gerüche und Geräusche eines fremden Hauses, rätselhafte, mitunter wandernde Lichtflecken, die durch das außergewöhnlich große Fenster an die weiße Decke geworfen wurden, das Geschrei von Katzen und das hohe Jaulen oder Bellen von streunenden Hunden, das verstörende Rumoren einer Stadt, die nie ganz zur Ruhe zu kommen schien.
Leonardo setzte sich auf und tastete nach der Zunderdose, die auf dem Schränkchen neben seinem Bett lag. Das Aufleuchten der Kerze vertrieb die Dunkelheit aus dem Zimmer und mit ihr den letzten Nachhall des Traumes aus seinem Kopf.
Er zog die Schublade des Schränkchens auf und nahm ein Blatt blaues Papier und einen Kohlestift heraus. In ungelenker linkshändiger Schnörkelschrift notierte er das Wesentliche seines vergangenen Alptraums:
»Den Menschen wird es vorkommen, als stürze etwas vom Himmel.«
Er hatte eine Art Geheimschrift entwickelt, in der er das niederschrieb, was nur für seine Augen bestimmt sein sollte. Zum einen schrieb er von rechts nach links, zum anderen drehte er auch die Buchstaben und Wörter um, so dass es wie Spiegelschrift aussah. Für andere war das nur mit großen Schwierigkeiten zu entziffern.
»Sie werden fleischlichen Umgang pflegen mit ihrer Mutter und ihren Schwestern.«
Leonardo ließ das Papier sinken und starrte an die vom flackernden Kerzenschein erleuchtete Wand. Das waren Träume, für die man bestraft werden konnte. Wenn man sie aufschrieb und das in die falschen Hände gelangte – schon für weit Geringeres wurden Menschen aufgehängt oder auf dem Scheiterhaufen verbrannt, um sie von ihren Sünden zu reinigen.
Er legte Papier und Stift in die Schublade zurück und blies die Kerze aus. Das unstete Licht tanzte noch eine Weile vor seinen Augen, dann wurde es dunkel, und die Lichtflecken an der Decke kehrten wieder.
Menschen sind nicht frei, dachte er. Kinder nicht und Erwachsene schon gar nicht. Vieles Menschliche musste unterdrückt und versteckt werden, weil einige wenige, die zufällig die Macht über Leben und Tod hatten, der Meinung waren, dass es unrichtig sei, so zu leben, wie die Natur es wollte. Sie hatten Regeln aufgestellt, die man sklavisch zu befolgen hatte, sonst konnte man sich auf etwas gefasst machen. Sie waren die selbsternannten Gesandten Gottes und wussten somit, was für alle das Beste war. Man sollte unbedingt in den Himmel kommen, auch wenn einem gar nicht danach war.
Leonardo war ein wenig beunruhigt über seine unchristlichen Gedanken, die er niemandem anvertrauen konnte. Und das bestürzte ihn wiederum. War er denn der Einzige, der die Dogmen und Gesetze des Klerus und der Obrigkeit nicht für so selbstverständlich hielt? War er deswegen etwa eine jener niederen Kreaturen, die allseits als Ketzer geächtet wurden?
Dieses Haus schickt meinen Geist auf seltsame Irrwege, dachte er erneut. Vielleicht würde sich das geben, wenn er bei Verrocchio untergekommen war. Oder wenn er gelernt hatte, seine wilden Gedanken in bildlicher Form greifbar zu machen.
Als Leonardo endlich wieder einschlief, blieben die Träume fort. Vorübergehend.
Die bottega Andrea del Verrocchios lag im Viertel Sant’Ambrogio im Osten der Stadt, gar nicht weit von Ser Pieros Kanzlei entfernt.
Verrocchio – er hatte, wie es nicht unüblich war, den Namen seines Lehrers angenommen – war in Florenz aufgewachsen und hatte dort zunächst, auch das nicht unüblich für einen Künstler, eine Goldschmiedelehre gemacht, bevor er die Bildhauerei und Malerei erlernte. Er war ein herausragender Fachmann, routiniert und geschliffen, jedoch nicht immer inspiriert, wie manche behaupteten.
Seine Werkstatt stellte neben Gemälden ein breites Spektrum an Kunstgegenständen aus Bronze, Marmor, Holz, Silber und Eisen her. Sogar Grabsteine wurden dort gefertigt, Turnierbanner, Theaterkostüme, Rüstungen und Kanonenkugeln.
Als sein Vater ihn endlich zu Verrocchio gebracht hatte, blickte Leonardo ein wenig entgeistert auf diese emsige Produktion. Irgendwie hatte er etwas anderes erwartet, eine ruhige, kontemplative Atmosphäre, in der hehre Kunst gemacht wurde. Stattdessen war die bottega nichts anderes als eine kleine Fabrik, in der allerlei mehr oder weniger kunstvolle Gebrauchsgegenstände auf Bestellung gefertigt wurden. Einige der anwesenden Lehrlinge und Mitarbeiter schielten kurz zu ihm herüber, die anderen ignorierten ihn.
Von Verrocchio
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