Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
Kindern in der Grotte sollte noch oft in seinen Träumen auftauchen.
Es dauerte einige Tage, bis Leonardo sich erneut davonstehlen konnte, um die Grotte am Fluss aufzusuchen.
Sie war kühl und leer, der Zauber war fort. Nur die Fußspuren am Eingang waren als stumme Zeugen dafür geblieben, dass Leonardo keiner Sinnestäuschung erlegen war.
Er setzte sich dorthin, wo die Frau gesessen hatte, und bildete sich ein, er könnte noch ihre Wärme spüren. Mit einem Gefühl von Einsamkeit starrte er auf das vorüberströmende Flüsschen. Er hatte versucht, eine Zeichnung von dem zu machen, was er hier gesehen hatte, um die Erinnerung an jenen magischen Moment zu bewahren. Doch sie war ihm nichtssagend und leblos erschienen, und er hatte sie frustriert weggeworfen.
Wenn ich doch malen könnte!, dachte er.
»So, das hätten wir«, sagte Ser Piero und sah den hageren älteren Mann an, der ihm gegenüber an seinem Schreibtisch saß, die Mütze ehrfürchtig auf dem Schoß. »Ich lasse alles ins Register der Stadt aufnehmen, und dann können Sie fortan völlig unbesorgt sein.«
»Vielen, vielen Dank, Ser Piero«, sagte Maestro Connetta. »Dieser Streit zog sich schon viel zu lange hin.«
Connetta leitete die kleine Schule in Vinci, die Leonardo besuchte. Viele Schüler hatte er nicht. Die meisten elf- bis zwölfjährigen Kinder – das war das Alter, in dem man sie für schulreif erachtete – wurden zu Hause behalten, damit sie auf dem Feld und bei anderen Arbeiten helfen konnten.
Der Notar schlug seine Bücher zu und lehnte sich in seinem Ledersessel zurück. »Wie macht sich Leonardo im Unterricht?«
Connetta zögerte kurz. Der Notar genoss großes Ansehen in der Stadt, und er wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen.
Ser Piero sah sein Zögern und machte eine wegwerfende Gebärde. »Sie brauchen mich nicht zu schonen, ich weiß, dass er nicht der beste Schüler ist, das hat er mir selbst schon mehr oder weniger gestanden.«
»Ihr Sohn ist gewiss nicht dumm, aber…« Der Schulmeister zögerte erneut. »Ich bekomme ihn im Unterricht nicht allzu oft zu sehen.«
Ser Piero nickte, als erzähle man ihm nichts Neues. »Leonardo ist einer, der mit den Augen lernt und nicht mit den Ohren. Er streift lieber in der Gegend umher und studiert Menschen und Dinge.«
»Erstaunlicherweise kann er hervorragend rechnen. Und er zeichnet bemerkenswert gut, vor allem Vögel. Neulich wollte er auch alles über die Malerei wissen und stellte Fragen, die ich nicht beantworten konnte. Ich kenne natürlich die großen Meister, und ich weiß, was Tempera ist und dass Pinsel aus Eichhörnchenschwänzen gemacht werden, aber da hört es dann auch auf. Man kann nicht alles wissen und kennen.«
»Hm, vielleicht sollte ich ihn in eine Künstlerwerkstatt schicken.«
»Dafür müsste er nach Florenz.«
Nachdenklich erwiderte der Notar: »Vielleicht in ein paar Jahren…« Er verriet nicht, dass er selbst vorhatte, über kurz oder lang nach Florenz zu ziehen.
»Er müsste wenigstens etwas Latein lernen, damit er die richtigen Bücher lesen kann, aber er ist der Meinung, dass seine Muttersprache völlig ausreicht, um auszudrücken, was er sagen will. Latein hält er für umständlich und unnötig.« Connetta klang ein bisschen eingeschnappt, als betrachte er das als persönliche Beleidigung.
»Ach, er hat ja noch Zeit, Maestro Connetta.« Der Notar erhob sich zum Zeichen, dass die Unterredung beendet sei.
Connetta stand gleichfalls auf, hastig, als sei ihm plötzlich bewusst geworden, dass er die Zeit des anderen schon über Gebühr beansprucht hatte. »Vielen Dank für Ihre Bemühungen, Ser Piero.«
Der Notar nickte. »Und machen Sie sich keine Sorgen um Leonardo. Ich weiß, dass er gern aus der Reihe tanzt. Das wird sich schon noch geben.« Er lächelte begütigend.
»Sie sind sehr nachsichtig«, entgegnete Connetta. Er ging zur Tür, leicht gebeugt, als sei ihm das Leben eine Last. »Guten Tag.«
Nachdenklich nahm Ser Piero wieder Platz. Er sorgte sich zwar nicht um Leonardos Erziehung, aber wenn der Junge tatsächlich irgendein künstlerisches Talent besaß, wäre es schade, das verkümmern zu lassen. Vielleicht sollte ich bei Gelegenheit einmal Meister Andrea di Cione kontaktieren, dachte er. Beziehungsweise del Verrocchio, wie sich der Mann neuerdings nennen ließ. Wenn es sich ergab, denn er hatte keine Lust, eigens dafür nach Florenz zu reisen. Das hatte gewiss keine Eile.
Er widmete sich wieder seiner Arbeit.
3
Die Sonntagsmesse
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