Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
Warten erschien ein mürrischer Bediensteter, der sie in ein Vorzimmer führen wollte. Doch bevor es dazu kam, sprang ein Lakai herbei, der ganz außer Atem rief: »Seine Majestät wünscht Meister da Vinci unverzüglich zu sehen!«
König Franz I. empfing Leonardo in einem Arbeitszimmer, das keinerlei überflüssigen Luxus enthielt, wohl aber mit einigen Bildern geschmückt war, die sogleich Leonardos Aufmerksamkeit auf sich zogen.
Der König erhob sich wahrhaftig von seinem Stuhl, um seinen Besucher zu begrüßen. »Wie schön, Sie hier zu haben!« Er trat an einen Ebenholzschrank und nahm eine Karaffe und zwei Römer aus grünem geschliffenem Kristall heraus. »Wein?«
Leonardo nickte. »Erlaubt Ihr…?« Er trat vor eines der Bilder an der Wand, eine groteske Darstellung von allerlei Höllenwesen und Fabelgestalten, halb Tier, halb Mensch, die aus der Unterwelt entwichen zu sein schienen, um sich über die Verletzlichkeit der Menschen lustig zu machen.
»Hieronymus Bosch«, erklärte der König. »Ein ganz anderer Stil, als Sie ihn gewohnt sind, nicht wahr? Die anderen beiden Bilder stammen von Hans Memling und Hugo van der Goes, ebenfalls Maler aus den Niederlanden. Aber das Werk von Bosch ist meiner Meinung nach das bemerkenswerteste.«
»Wunderbar! Und ich wusste nicht einmal von seiner Existenz. Warum bin ich nur mein Leben lang in Italien geblieben?«
»Umso größer ist meine Freude, dass ich Sie hierher nach Frankreich locken konnte.«
Leonardo war angenehm überrascht über den herzlichen Empfang seitens des Königs. Sie waren sich zwar schon bei ihrer ersten Begegnung im vergangenen Jahr auf Anhieb sympathisch gewesen, doch damals hatte der offizielle Charakter des Treffens im Rahmen der Papstreise einen völlig anderen Umgangston vorgegeben. Jetzt schien es, als wolle Franz I. möglichst rasch Freundschaft mit ihm schließen.
»Ich kann Ihnen heute leider nicht viel von meiner Zeit schenken«, musste der König nach kurzem Gespräch bedauernd einräumen. »Aber ich verspreche Ihnen, dass wir… Reiten Sie?«
»Nicht mehr, leider. Mein Rücken…«
»Dann werden wir uns fahren lassen. Ich möchte Ihnen die Stadt zeigen, einen der angenehmsten Orte Frankreichs, wie ich finde.«
»Den Eindruck hatte ich auch schon«, erwiderte Leonardo. »Und auf dem Weg hier herauf sah ich ein Schlösschen von außergewöhnlichem Liebreiz. Zu meinem Erstaunen schien es unbewohnt zu sein.«
Der König nickte. »Sie meinen wahrscheinlich Cloux. Es ist Teil der königlichen Besitzungen. Der Comte de Ligny hat zuletzt dort gewohnt. Seither steht es leer. Wenn es Sie interessiert, können wir es uns morgen näher ansehen.« Der König stellte seinen Römer auf seinem riesigen Schreibtisch ab und nahm daran Platz. »Ich werde Sie und Ihre Begleiter jetzt in Ihre Gastzimmer bringen und dafür sorgen lassen, dass es Ihnen an nichts fehlt. Es sind noch einige andere gute italienische Künstler bei uns, wenngleich natürlich nicht von Ihrem Format.« Er lächelte entschuldigend. »Sie werden sie kennenlernen. Ist der junge Mann, der Sie begleitet, auch Künstler?«
»Francesco Melzi zeichnet und malt in der Tat ganz passabel, aber er ist in erster Linie mein Sekretär.«
Der König nickte. »Wir setzen unser Gespräch baldigst fort.«
Sie fuhren in einer von mehreren Schimmeln gezogenen geräumigen Karosse, auf der auch zwei Leibwächter hinten Platz hatten. Der König und Leonardo saßen auf dem mit goldenen Lilien bestickten purpurnen Samtpolster im Wageninneren. Ein halbes Dutzend uniformierter Reiter bildete die Eskorte.
Als hinter einer Wegbiegung das Herrenhaus von Cloux auftauchte, rief Franz I. : »Ah, da ist es, das Traumhaus von Meister da Vinci!« Er befahl dem Kutscher zu halten und zog einen Schlüsselbund hervor. Schmunzelnd fragte er: »Wollen wir uns einmal darin umsehen?«
Leonardo gefiel das Haus von innen mindestens genauso gut wie von außen. Die Räume waren dank der vielen großen Fenster hell und luftig. Über dekorativen Gesimsen trugen rustikale Eichenbalken die Decken. Mächtige Kamine verbreiteten den angenehmen Geruch von verbranntem Holz. Es gab sogar eine Bibliothek, deren Bestand der letzte Bewohner zurückgelassen hatte.
»Von hier führt übrigens ein unterirdischer Gang zum Schloss«, erklärte der König. »Wenn Sie hier wohnten, könnte ich trockenen Fußes zu Ihnen herüberkommen.«
»Ich fürchte, dass ich mir ein Haus von dieser Größenordnung nicht leisten kann,
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