Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
habe mir deine Skizze zu Johannes dem Täufer angesehen.«
»Johannes der Täufer?«
»Suchst du wirklich Streit mit dem Papst?«
»Warum, was meinst du?«
»Leonardo, dein Johannes hat eine Erektion!«
»Die haben wir doch alle einmal, der große Leo nicht weniger als andere. Außerdem muss man schon ganz genau hinsehen, um das erkennen zu können.«
»Und das Gesicht und die Pose! Mir scheint, das ist eher ein Mädchen als ein Mann.«
»Deswegen die Erektion, da weiß man gleich, woran man ist.«
»Es ist so ein schrecklich verwirrendes Bild, Leonardo. Mann oder Mädchen? Scheuer Liebreiz oder lockende Verführung? Und diese demonstrative Brustwarze! Man könnte meinen, es handelt sich um eine römische Prostituierte, die einen Kunden umgarnt.«
Leonardo schmunzelte. »Du hast dir die Zeichnung gut angesehen, aber nicht gut genug. Sie stellt nicht Johannes den Täufer dar, sondern einen Engel.«
»Einen Engel? Ohne Flügel und mit einer Erektion? Für mich ist das eher ein Lustknabe.«
Leonardo nickte. »Manchmal liebe ich solche Schelmenstreiche.«
Ihm war nicht danach, Melzi zu erklären, was er mit dieser kleinen Zeichnung ausdrücken wollte. Sie gab etwas von seiner eigenen Zerrissenheit wieder, seinen unbefriedigten Sehnsüchten, seiner Einsamkeit inmitten von Bewunderern und Speichelleckern, seinem Gefühl des Andersseins und der Fremdheit unter Menschen, mit denen ihn nichts verband…
»Aber wenn ich je zu dem Bild von Johannes dem Täufer komme, werde ich mich am Riemen reißen«, versprach er.
Es klang freilich nicht so, als sei es ihm ernst damit.
Der Sommer dieses Jahres suchte Rom mit anhaltender Hitze heim. Sie machte Leonardo buchstäblich krank. Er musste viele Tage das Bett hüten, was auch im Belvedere auf die Dauer kein Vergnügen war, denn die Mauern heizten sich auf, und Kühle war kaum noch zu finden. Schweißgebadet und flach atmend wie ein hechelnder Hund, lag Leonardo auf seinem Lager und starrte an die Decke. In seiner Reichweite stand zwar eine große Karaffe Wasser, die Sofia regelmäßig wieder auffüllte, doch auch das Wasser war warm und verschaffte kaum Linderung. Er begann Rom allmählich zu hassen.
Die Berichte davon, dass es erneut dramatische Auseinandersetzungen um Mailand gab, tangierten Leonardo kaum. Franz I. hatte sich direkt nach seiner Krönung aufgemacht, das Herzogtum zurückzugewinnen. Die diplomatischen Verhandlungen drohten zu scheitern, und es stand wohl ein erneuter Krieg an. Erst als er erfuhr, dass Giuliano de’ Medici, der sich gerade in Florenz aufhielt, ernstlich erkrankt sei, ein Lungenleiden, wie es hieß, regte sich etwas in ihm. Er diktierte Melzi einen Brief, in dem er Giuliano baldige Genesung wünschte. Dabei ließ er auch einfließen, dass er selbst, von der Hitze geschwächt, daniederliege.
Zu seiner Erleichterung erhielt er einige Wochen später ein Antwortschreiben des inzwischen wiederhergestellten Giuliano. Dieser berichtete auch von der großen Bewunderung, die Leonardos mechanischer Löwe bei seiner Vorführung gefunden habe. König Franz sei begeistert von Leonardos Werk und wolle ihn baldigst kennenlernen. Leonardo fühlte sich darauf wie beflügelt, zumal auch die Temperaturen unterdessen wieder erträglich waren, und er begann mit neuer Energie an diesem und jenem zu werkeln.
Weniger erfreut reagierte er, als der Papst ihn wieder einmal zu sich bitten ließ. »Das verheißt nichts Gutes«, sagte er zu Melzi, bevor er dem Pagen folgte, der geschickt worden war, ihn auf der Stelle zu holen.
Papst Leo X. saß in seinem großen Arbeitszimmer an der Stirnseite eines ungemein langen Tisches und blätterte in einem Stapel Papieren. Er schaute auf, als der Bedienstete Leonardo ankündigte, und sein Blick verfinsterte sich sichtlich.
Mit einer für seine Fülligkeit überraschenden Spannkraft sprang er auf, um neben dem Tisch auf und ab zu gehen, fünf Schritte hin, fünf Schritte zurück. »Wie lange ist es her, dass ich Ihnen den Auftrag gab, ein Gemälde von Johannes dem Täufer anzufertigen?«
»Ich weiß es nicht genau, mein Gedächtnis ist nicht mehr das, was es einmal war.«
»Mir scheint, Sie haben den ganzen Auftrag vergessen!« Der Papst blieb stehen und sah Leonardo unfreundlich an. »Wie mir zu Ohren gekommen ist, hat Sie Ihr Gedächtnis in dieser Hinsicht schon häufiger im Stich gelassen.«
»Wenn ich eine Arbeit nicht beizeiten fertigstelle, hat das in der Regel gute Gründe, Eure Heiligkeit. Diesmal bin ich, wie
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