Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
dass uns heute Nacht noch etwas zustößt, äußerst gering«, meinte Leonardo lakonisch. »Aber vielleicht stoßen wir doch noch auf einen Bauernhof«, fügte er hinzu, und das klang optimistischer, als er sich seit Wochen gefühlt hatte.
Melzi nickte. »Wir fahren weiter, bis die Sonne untergeht.«
Leonardo streckte sich wieder aus und bemühte sich, dabei keinen Schmerzenslaut von sich zu geben. »Wann habt ihr denn zuletzt andere Reisende gesehen? Auf dem Weg, der zur königlichen Residenz führt, sollte es doch eigentlich belebter sein, oder?«
Melzi griff zu den Zügeln. »Ich habe nicht den ausgefahrenen Hauptweg genommen, um dir das Gerüttel zu ersparen.« Das Pferd setzte sich mit sichtlichem Widerstreben in Bewegung.
»Für diese Güte werde ich dich in meinem Testament bedenken«, sagte Leonardo nur halb im Scherz.
Sie fanden kein Nachtquartier und schliefen unter freiem Himmel, diesmal auf einem überraschend weichen Humusbett unter einer riesigen Esskastanie. Sobald es hell wurde, brachen sie auf, um Amboise noch vor Mittag zu erreichen.
Das Städtchen war kleiner, als Leonardo es sich vorgestellt hatte. Doch sowie sie das Stadttor passiert hatten, war ihm, als komme er nach Hause. Die Kirche St. Denise und das Rathaus hätten von ihm selbst entworfen sein können, wie er mit Verwunderung feststellte. Die meisten Häuser waren weiß und trugen rote Ziegeldächer – ein erfrischender, ja geradezu lieblicher Anblick. Und über allem thronte das schöne Schloss des Königs auf dem hohen Felsplateau. Es wirkte mit seinen beiden großen Rundtürmen so organisch, als wäre es dort oben gewachsen und nicht von Menschenhand gebaut worden.
Auf dem Weg, der sich zum Schloss hinaufschlängelte, kamen sie an einem prächtigen Herrenhaus vorüber, das schon etwas von einem Schlösschen hatte. Es war mit vielen großen Fenstern, mehreren Türmen und Erkern sowie angrenzenden Stallungen ausgestattet. Auch hier nahm sich der rote Ziegelstein höchst anmutig in dem Grün der Rasenflächen und des Buschwerks aus, das in der aus Westen kommenden Brise raschelte.
»Warte mal eben, halt, halt!«, rief Leonardo, der sich im Wagen aufgesetzt hatte, um sich umschauen zu können.
Als Melzi das Pferd anhielt, kletterte Leonardo ungewöhnlich flink aus dem Wagen. Seinen Stock nahm er freilich doch lieber mit, bevor er ohne ein Wort quer über den Rasen zum Haus hinüberhumpelte. Er ging einmal darum herum und blieb hin und wieder stehen, um an der Fassade emporzuschauen.
Mathurina fragte: »Müssen wir uns Sorgen machen?«
»Ich mache mir schon seit langem Sorgen um ihn«, erwiderte Melzi ernst. Er blickte Leonardo nach, der hinter den Stallungen verschwand. »Womöglich läuft er noch in ein Schwert, weil man ihn für einen Räuber hält.«
»Spricht der Meister Französisch?«
Melzi nickte. »Recht gut sogar. Wie er alles gut kann, wenn er es sich einmal vorgenommen hat.«
Leonardo tauchte auf der anderen Seite des Hauses wieder auf und kam zum Wagen zurück. »Ich glaube, es ist unbewohnt«, sagte er verblüfft. »Kaum zu fassen, es ist so ein wunderbares Haus.« Er schaute zu Mathurina hinauf. »Geh du jetzt einmal nach hinten.« Als sie gehorcht hatte, hangelte sich Leonardo auf ihren Platz neben Melzi. »Ich wollte, ich könnte dieses Haus kaufen«, seufzte er, als sie weiterfuhren. »Aber als armer Künstler werde ich es mir wohl nicht leisten können.« Er gab Melzi einen Klaps auf den Oberschenkel. »Daran solltest du denken, falls du nach meinem Ableben doch noch zur Malerei überwechseln willst.«
»Aber du besitzt doch zwei Häuser und einen Weinberg!«
Leonardo zuckte gleichgültig die Achseln. »Und sogar eine Kalkgrube. Aber das ist alles zusammen nicht halb so viel wert wie dieses Haus hier.«
Verwundert erwiderte Melzi: »Ein schönes Haus durchaus, aber dass es dich so sehr anzieht?«
»Ja, das ist seltsam«, bestätigte Leonardo nachdenklich, zuckte dann aber die Achseln, ohne nach einer Erklärung zu suchen.
Aus der Nähe sah das Schloss Amboise nicht ganz so romantisch aus wie von fern. Es hatte eher den Charakter einer Festung. Angreifer würden es nicht leicht haben, diese Trutzburg einzunehmen, zumal nur ein einziger Weg zu ihr hinaufführte.
Sie hielten auf dem großen Innenhof an, wo sich ein Wachtposten erkundigte, wer sie seien und was sie wollten, bevor er den Inhalt ihres Wagens inspizierte. Danach winkte er einem Stallknecht, der das Gespann in seine Obhut nahm.
Nach einigem
Weitere Kostenlose Bücher