Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
Kinder ja begreifen, ohne die Worte zu verstehen, dachte sie. Sie versuchte sich zu erinnern, wie das in ihrer eigenen frühen Kindheit gewesen war, doch es gelang ihr nicht. Sie hatte nur vage Erinnerungen, und die hatten mit Kleidern zu tun. Ihre Mutter hatte im Winter, wenn nicht draußen auf dem Feld gearbeitet werden konnte, für ihre Familie und die gesamte Umgebung Kleider genäht – nicht nur zum Broterwerb, sondern auch zum Zeitvertreib. Sie war darin sehr versiert gewesen. In Caterinas Erinnerung hatte ihre Mutter immer ein Stück Stoff und Nadel und Faden in den emsigen Händen gehalten.
»Wenn deine Großmutter noch lebte, hätte sie dir jetzt etwas zum Anziehen nähen können. Ich kann das längst nicht so gut«, sagte sie.
Das Kind sah seine Mutter noch eine Weile abwartend an, doch als sie nichts mehr sagte, wanderte sein Blick zu den entfernten Hügeln hinüber. Sie schienen ihm interessanter zu sein als das Städtchen im Tal.
Leonardo wurde Caterina allmählich zu schwer, und sie setzte ihn wieder in den Wagen. Er ließ es geschehen, ohne den Blick von den Hügeln zu wenden. Er lehnte sich sogar ein wenig zur Seite, um an seiner Mutter vorbeischauen zu können.
Als Caterina sich wieder aufrichtete, bemerkte sie, was ihn so in Bann zog. Ein Stück weiter weg, etwas unterhalb der Hügelspitze, auf der sie sich befanden, kreiste ein Raubvogel wachsam in der feuchten Morgenluft und spähte nach Beute. Caterina wusste, dass es ein Milan war. Sie schaute sich gern Vögel an und kannte auch einige Arten. Den Milan mit seinem schimmernden rötlich-grauen Gefieder, seinem prächtigen gegabelten Schwanz und seinem durchdringenden Blick fand sie besonders schön.
Mit einem Mal änderte der Vogel seine Flugbahn und kam auf Caterina und Leonardo zu. Einige Sekunden lang kreiste er direkt über ihnen, dann legte er die Flügel an und stieß pfeilgerade herab. Erst im letzten Moment breitete er die Schwingen wieder aus und landete auf der Stange von Leonardos Wagen. Es war ein besonders imposantes Exemplar, nahezu einen braccio groß. Der Milan schwankte kurz, als suche er sein Gleichgewicht, und starrte dann das Kind an.
Caterina war erschrocken über das ungewöhnliche Verhalten des Vogels, das einen Moment lang wie ein Angriff ausgesehen hatte. Doch er schien nichts Böses im Sinn zu haben. Er saß einfach nur da, als wolle er ein wenig verschnaufen. Vielleicht war es ja ein zahmer Vogel, der irgendwo entflogen war.
Wie hypnotisiert erwiderte Leonardo den intensiven Blick des Milans. Dabei gab er aufgewühlte Laute von sich, als wolle er gleich weinen. Aber seine Neugierde war offenbar größer als seine Angst, er wurde still und streckte zögernd die Hand nach dem Vogel aus. Als er ihn so nicht erreichen konnte, versuchte er näher zu ihm hinzurutschen. Der Milan zog den Kopf zwischen die Schultern und tänzelte nervös auf der Stange des Wagens, die Augen argwöhnisch auf die ausgestreckte Hand des Kindes gerichtet.
Gerade als Caterina eingreifen wollte, weil sie fürchtete, der Vogel würde nach Leonardo hacken, breitete der Milan die Schwingen aus, streifte mit der linken Flügelspitze die Wange des Kindes und erhob sich mit mächtigen Schlägen in die Lüfte. Dann drehte er ab und verschwand, immer schneller werdend, mit einem kläglichen Schrei hinter einer Reihe Esskastanien.
Besorgt beugte Caterina sich über das Kind. »Er hat dir doch nicht weh getan?«
Leonardo schien sie gar nicht zu hören, sondern starrte nur dorthin, wo der Milan verschwunden war.
Caterina folgte seinem Blick. »Ich frage mich, was in den Vogel gefahren war. So etwas habe ich noch nie erlebt.«
Leonardo reagierte nicht darauf. Das faszinierende Bild von dem großen Vogel, der so elegant auf seinem Wagen gelandet war und sich dann wieder in die Lüfte geschwungen hatte, sollte sich ihm für immer einprägen.
2
Leonardo saß auf einem Hocker in der Scheune und schaute gebannt auf die emsigen Hände der drei Frauen, die hier Weidenkörbe flochten. Die flinken, routinierten Bewegungen ihrer Finger hatten wirklich etwas Hypnotisierendes. Wenn man lange genug darauf blickte, schien es, als hätten die Hände ein Eigenleben.
»Was kritzelst du denn da wieder?«
Leonardo wurde von der tiefen, fast männlichen Stimme Bertolias aufgeschreckt. Bertolia war die Dienstmagd von Ser Piero, aber sie dirigierte praktisch den gesamten Haushalt. Ser Piero wurde vollauf von seinem Notariat beansprucht, und Leonardos Stiefmutter
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