Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
als sich mit Leonardo die Zeit zu vertreiben.
»Große Vögel sind schön, wenn sie fliegen«, sagte Leonardo. »Ganz besonders, wenn sie sich vom Wind tragen lassen, ohne mit den Flügeln zu schlagen. Wenn ich das doch nur auch könnte…« Er starrte an seinem Vater vorbei auf die Bücher an der Wand, ohne sie wirklich zu sehen.
»Der Herrgott hat uns nicht zum Fliegen geschaffen«, entgegnete Ser Piero unwillig. Er beugte sich wieder über seine Arbeit.
»Aber Engel haben doch auch Flügel!«
»Engel sind unstofflich«, brummte Ser Piero. »Sie wiegen nichts. Menschen sind zu schwer, um von der Luft getragen zu werden.« Er hörte auf zu schreiben und blickte auf den Gänsekiel in seiner Hand. »So eine Feder, ja sogar ein ganzer Sack mit Federn wiegt fast nichts. Vergleich das mal mit dir selbst.«
»Aber große Vögel sind doch auch schwer!«
»Leonardo…« Ser Piero verlor hörbar die Geduld, der Junge hatte seine kostbare Zeit schon über Gebühr beansprucht. »Tu mir einen Gefallen, und such dir jemand anders, mit dem du über Vögel diskutieren kannst. Francesco zum Beispiel, oder deinen Lehrer in der Schule.« Er sah seinen Sohn durchdringend an. »Wie geht es übrigens in der Schule?«
»Manchmal sehr gut, manchmal sehr schlecht«, antwortete Leonardo wahrheitsgetreu. Wenn er wollte, konnte er ein brillanter Schüler sein. Vor allem in Mathematik war er gut. Da konnte er Fragen stellen, die nicht einmal der Lehrer zu beantworten wusste. Doch allzu oft machte die Schule ihm keinen Spaß. Er musste dort Dinge lernen, die ihn nicht interessierten, und über das, was ihn brennend beschäftigte, erfuhr er wiederum viel zu wenig. Daher war der Unterricht im Klassenzimmer für ihn verlorene Zeit. Viel lieber streifte er über die Hügel und durch die Wälder rund um die Stadt. Was er sich dort an Wissen erwarb, ging weit über den Horizont seines Lehrers hinaus. Ohnehin hatte Leonardo keine sehr hohe Meinung von Schullehrern. In seinen Augen waren sie besserwisserisch und kleingeistig und behandelten ihre Schüler, als wären diese Idioten. Wenn sie sie nicht gar schlugen.
»Manchmal sehr schlecht?«
»Ich habe keine Lust, langweiliges Zeug zu lernen.«
»Alles Wissen ist nützlich, Leonardo. Auch wenn es dir langweilig erscheint.« Ser Piero klang vorwurfsvoll. »Oder möchtest du etwa Bauer werden?«
Leonardo zuckte die Achseln. »Vielleicht schon. Ich mag Tiere und die Früchte des Feldes.«
»Wenn du dir da nur keine falschen Vorstellungen machst. Das Bauernhandwerk ist hart und erfordert schwere körperliche Arbeit. Und da ich den Eindruck habe, dass du dich nicht gern überanstrengst…« Ser Piero ließ den Satz in der Schwebe, doch der Vorwurf war unüberhörbar.
Notar will ich jedenfalls nicht werden, dachte Leonardo, sagte es aber nicht laut. Den lieben langen Tag in einer staubigen Schreibstube und die ganze Zeit die Nase in langweilige Dokumente stecken…
»Bist du in letzter Zeit noch einmal in Campo Zeppi gewesen?«
Leonardo zuckte zusammen, als fühle er sich ertappt. In Campo Zeppi wohnte seine leibliche Mutter. Er hatte sie, sobald er so weit laufen konnte, einige Male besucht. Caterinas Haushalt war immer größer geworden, weil Verwandte bei ihr und ihrem Mann eingezogen waren und sie selbst noch Kinder bekommen hatte. Aber Leonardo hatte sich in Campo Zeppi nicht willkommen gefühlt, und jetzt war er schon lange nicht mehr dort gewesen. Wozu auch? Er hatte damit leben gelernt, zwei Mütter und zwei Väter zu haben, die ihm allesamt wenig Interesse schenkten.
»Nein, Vater«, antwortete er. »Ich gehe nicht mehr so gern dorthin…« Eine weitere Erklärung gab er dazu nicht ab.
Ser Piero nickte, als könne er das verstehen. Er tauchte seine Feder in das große Tintenfass auf seinem Schreibtisch. »Jetzt geh, und tu etwas Sinnvolles.« Seine Feder begann über das Papier zu kratzen.
Leonardo ging in die Küche, bestrich einen Kanten Brot mit Schmalz und verließ kauend das Haus. Niemand schenkte ihm Beachtung.
Es war Herbst, aber die Toskana war in strahlendes Sonnenlicht getaucht. So war es nicht immer, mitunter gefielen den Wettergöttern auch rauhe Streiche, aber dieser Tag war einer von denen, da man das Gefühl hatte, durch eine Landschaft zu laufen, die so wunderschön war, als hätte ein großer Meister sie gerade frisch gemalt.
Leonardo betrachtete die schöne Umgebung, in der er aufwuchs, nicht als selbstverständliche Kulisse, sondern war stets aufs Neue
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