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Der Maler Gottes

Der Maler Gottes

Titel: Der Maler Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Thorn
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Tuch und tupft damit dem Vater die Stirn. Matthias sieht das eingefallene Gesicht des Vaters, das vor Schmerz ganz grau scheint. Er sieht, wie sich die knochigen Hände in der Decke verkrallen, die trüben Augen ziellos im Zimmer umherirren, die geschwollene Zunge sich immer wieder zwischen die aufgesprungenen Lippen schiebt.
    Gerade noch rechtzeitig kommt der Geistliche. Wenige Stunden nach der letzten Ölung schließt der Maler und Bildschnitzer Hans aus Grünberg-Neustadt für immer seine Augen.
    Die Mutter sitzt neben dem toten Mann, hält noch lange seine Hand und weint leise. Dann kommen die Leichenwäscherinnen, um den Vater herzurichten. Auch ein Klageweib ist dabei. Sie heult und klagt, und es ist, als ob es der Schmerz der Mutter ist, den sie sich aus der Kehle weint, während die Mutter noch immer wie leblos dasitzt, den Blick nicht von ihrem toten Mann wenden kann und die Tränen stumm rinnen lässt. In der Nacht, bevor der Leichnam des Vaters auf dem Friedhof beigesetzt werden soll, hält die Familie Totenwache.
    Die Mutter sitzt auf einem Schemel und wiegt sich langsam hin und her. Johannes hat die Hände gefaltet und murmelt leise Gebete.
    Matthias sitzt stumm und schweigt. Er gönnt dem Vater den Tod, der die Erlösung von dem Leiden brachte, weiß nicht, warum er weinen soll. Sie klagen um das, was sie verloren haben, denkt er, ihre Trauer ist Selbstmitleid. Sie weinen um sich, nicht um den Vater. Er beobachtet die Mutter am Totenbett: den Ausdruck ihrer Augen, die Blässe ihres Gesichts, die tiefen Falten um den Mund. Alles prägt er sich ein, jede Furche, jede Linie. Auch den toten Vater betrachtet er, das gequälte, wachsbleiche Gesicht, das der Tod im Schmerz erstarren ließ, die eingefallenen Wangen und die Augen, die tief und für immer geschlossen in den Höhlen liegen. Lange sitzt er und schaut. Dann holt er ein Blatt Papier, spannt es auf ein Holzbrett und beginnt zu zeichnen. Er hört, wie die Mutter aufsteht und um die Lagerstatt zu ihm herüberkommt, doch er sieht nicht auf. Er ist zu beschäftigt damit, die Gesichter der Eltern auf das Papier zu bannen. Matthias erschrickt, als die Mutter ihm das Blatt heftig aus den Händen reißt, es vor seinen Augen in Stücke fetzt und in das Feuer wirft.
    »Versündige dich nicht!«, schreit sie mit schriller Stimme und schlägt mit beiden Fäusten auf ihn ein. »Wie kannst du es wagen, mit einem Bild die Trauer um den Vater zu stören? Kein Mensch bist du. Kein Mensch wie die anderen. Du bist vom Teufel besessen. Und besessen von deinen Farben, von Bildern, Pinseln, Schnitzmessern und Holz. Nicht einmal der Tod deines Vaters ist dir heilig. Nicht einmal ihn kannst du mit den Augen des Sohnes sehen, nur mit den Augen des Malers.« Matthias versteht die Mutter nicht, doch er hat gelernt, dass ihr Verhalten in den Augen der anderen das richtige ist, seine Art der Trauer aber die falsche. Er ist es, der gegen eine Regel verstoßen hat, die er nicht aufgestellt hat, doch die allgemein gültig ist. Allein fühlt er sich nun auch inmitten der Familie, inmitten derer, die ihm am nächsten sein sollten, doch so weit weg sind, als seien sie Fremde. Matthias greift nach ihren Händen, die auf seine Schultern schlagen, greift nach ihnen und hält sie fest, bis die Mutter aufhört zu schreien. Er führt sie zu dem Schemel, sagt: »Mit meinem Bild, Mutter, lasse ich ihn wieder auferstehen. Es ist Gottes Werk, nicht das des Teufels.« Als die Mutter das hört, schlägt sie vor Entsetzen das Kreuzzeichen und flüstert mit vor Angst brüchiger Stimme: »Das hat dir der Teufel eingegeben, Matthias. Du versuchst Gott. Er allein ist der Schöpfer. Wie kannst du es wagen, dich mit ihm zu vergleichen? Geh weg, Matthias, geh weg von hier. Du bist nicht wie wir, bist keiner von uns.«
    Und sie setzt sich hin, die Hände vors Gesicht geschlagen, weint mit bebenden Schultern, und ihr Schluchzen dringt aus der Kammer bis hinunter in die Küche, wo die Magd, die alles gehört hat, stumm steht und sich bekreuzigt, als Matthias an ihr vorbei und hinaus auf die stillen, nächtlichen Straßen von Grünberg-Neustadt läuft. Matthias eilt durch die engen Gassen, vorbei am Gasthaus zum Grünen Krug, über den Marktplatz hinüber zum Diebesturm und von dort zur Klosteranlage. Auf einem Stein am Wegrand lässt er sich nieder. Die Mutter hat Recht, denkt er. Ich bin nicht wie Johannes, bin nicht wie der Vater, wie Georg und all die anderen hier in Grünberg. Ich kann mich nicht

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