Der Mammutfriedhof
Lüftungsloch im Dachgiebel der Hütte des Ratschlags. Eine weiße Rauchwolke suchte dort oben den Weg ins Freie. Mythor wusste wieder, wo er sich befand, und die Erinnerung an die vergangene Nacht kehrte vollends zurück. Er richtete sich auf und sah zu seinen Füßen die Reste des Fischernetzes liegen .
Kalathee legte ihm einen feuchten, kühlen Lappen auf die Stirn. Seine Gedanken wurden wieder klar, das Dröhnen und schmerzhafte Pochen in seinem Schädel ebbte allmählich ab.
»Sie haben dich ganz schön zugerichtet«, sagte Elivara und hockte sich neben ihn. »Du musst sie in ziemliche Aufregung versetzt haben.«
»Sie werden es büßen müssen, sie werden mich kennenlernen«, schimpfte Nottr. Er hatte sein Schwert gezogen, lief in der Hütte hin und her und fuchtelte mit der Waffe in der Luft herum.
»Wir dürfen nichts überstürzen«, warnte Sadagar vorsichtig. Er kratzte sich nachdenklich die faltige Stirn.
»Erzähl, was geschehen ist«, forderte Elivara. »Warum treibst du dich in der dunklen Nacht in der Stadt herum?« fügte sie mit einem spitzbübischen Lächeln und mit einem Seitenblick auf Kalathee hinzu.
»Ich habe einen Führer gesucht«, erklärte Mythor. »Es gibt jemanden, der einen Weg durch den Mammutfriedhof kennt!«
»Was soll uns das nützen?« fragte Sadagar. »Denkt an die Wachen!«
»Wachen?« fragte Mythor.
Elivara nickte. »Nachdem sie dich als zusammengeschnürtes Bündel im Fischernetz zurückgebracht haben, sind vor der Tür Wachen aufgezogen. Zehn schwerbewaffnete Männer. Sie werden regelmäßig kontrolliert und ausgewechselt. Wir können die Hütte nicht verlassen. Wir sind Gefangene!«
»Gefangene?« brüllte Nottr. »Niemand nimmt einen Lorvaner gefangen.« Er stand in der Mitte der Hütte, das gezogene Schwert in der ausgestreckten Hand. »Gebt mir ein Zeichen, und es gibt keine Wachen mehr!«
»Lass uns erst darüber nachdenken«, beschwichtigte ihn der Steinmann. »Jetzt darf man keine Fehler machen!«
Mythor tastete nach seiner Hüfte und beruhigte sich, als er den warmen Griff Altons in seiner Hand spürte.
»Sie haben uns nicht entwaffnet«, stellte Elivara fest. »Obwohl sie bei dir die Gelegenheit dazu hatten!«
»Ja, wir hatten dazu Gelegenheit!« Jenersen, der Fürst der Pfahlstadt Urguth, war unter der niedrigen Tür der Hütte erschienen. Der schlanke, hochgewachsene Mann blieb stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir haben es nicht getan, weil wir euch nicht als Feinde betrachten wollten. Ihr habt uns gerettet. Wir haben viel an euch gutzumachen.«
»Sehr richtig«, bestätigte Sadagar eifrig.
»Aber ihr habt versucht, euch über die Gebote dieser Stadt hinwegzusetzen«, fuhr Jenersen fort. »Ihr habt euren Plan, in den Mammutfriedhof einzudringen, nicht aufgegeben, obwohl es euch verboten wurde. Wir mussten euch vor euch selbst schützen. Deshalb dürft ihr diese Hütte nicht mehr ohne Bewachung verlassen!«
»Soll ich dir etwas sagen, Fürst«, sagte Nottr mit betont ruhiger Stimme und stellte sich dicht vor den hageren Mann. »Ich bin es gewohnt, immer selbst zu entscheiden, was ich darf und was ich nicht darf.« Er setzte die Spitze seines Schwertes auf Jenersens Brust.
»Es gibt nur eine Sache, die er gern möchte, aber trotzdem nicht darf«, kicherte Sadagar und warf einen bedeutungsvollen Blick auf Kalathee. Sobald der Satz heraus war, biss sich der Steinmann auf die Lippen, duckte sich und sah ängstlich zu Nottr auf.
Der Lorvaner hatte die Worte entweder nicht gehört, oder er beachtete sie einfach nicht. Er blickte dem Fürsten fest in die Augen.
»Ich weiß, dass ihr tapfer seid«, antwortete Jenersen. »Ihr habt es bei der Rettung der Stadt bewiesen. Aber ich kann nicht anders handeln. Der Mammutfriedhof darf nicht betreten werden!«
Ohne sich noch weiter um die fünf aus Nyrngor zu kümmern, drehte sich der Fürst um und ging auf die Tür zu. »Die Fässer der Kurnis werden von meinen Leuten mit frischem Trinkwasser gefüllt, ebenso der Lagerraum mit Dörrfisch und allen anderen notwendigen Lebensmitteln. Wenn ihr zurücksegeln wollt, das Schiff ist jederzeit bereit!«
»Noch werden wir nicht zurücksegeln«, murmelte Mythor. Seine Hand schloss sich um den Griff des Gläsernen Schwertes.
Mit ihrem unteren Rand berührte die Sonne am fernen Horizont das Meer der Spinnen. Mit ihren Strahlen färbte sie das Wasser blutrot und tauchte auch die bleichen Wände der Pfahlstadt in ein warmes Licht.
Die Wachen vor der Hütte
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