Der Mammutfriedhof
Sklutur gab den Ausschlag. Mythor zerstreute alle Bedenken. Er wollte keine Möglichkeit ungenutzt lassen, die sein Vorhaben beschleunigen konnte. Er verließ die Hütte.
Die Gestalt lief mehrere Schritte vor Mythor her. Von Zeit zu Zeit blieb sie stehen, sah sich um und winkte ihm. Sie entfernte sich nicht weit von der Hütte des Ratschlags. Schon bald huschte sie in eine schmale, dunkle Gasse. Die Fischerhütten standen hier so dicht, dass kaum das Licht der Fackeln in den Durchgang drang.
Wieder kamen Mythor Bedenken. Er hatte nicht einmal seine Gefährten informiert. Was, wenn dies eine Falle war? Um gegen jede mögliche Gefahr gewappnet zu sein, zog er Alton aus dem Gürtel. Fahl leuchtete die Klinge in der Dunkelheit der Gasse.
Nach weniger als hundert Schritten blieb die Gestalt stehen und drehte sich nach Mythor um. Sie wartete auf ihn. Er näherte sich langsam und vorsichtig.
Mythor achtete auf jede Bewegung der Gestalt. Er versuchte zu erkennen, ob sie Waffen trug. Aber der weite schwarze Umhang verbarg alles. Selbst ihre Hände waren in den Falten verborgen.
»Wer bist du?« fragte Mythor und versuchte durch den schmalen Schlitz, den die Kapuze frei ließ, das Gesicht zu erkennen. Aber er sah nur Dunkelheit.
Sehr langsam bewegte sich die Gestalt. Ihre Arme zogen sich aus dem Gewand zurück. Jeden Augenblick mussten die Hände erscheinen. Mythor rechnete damit, dass sie einen Dolch oder eine andere Waffe hielten. Er trat einen Schritt zurück und hob sein Schwert. Er richtete die leuchtende Spitze auf die Brust der Gestalt.
Jetzt hatten die Hände den Umhang verlassen. Die Haut schimmerte hell im schwachen Licht. Die Hände waren zartgliedrig und fein. Die Handflächen waren geöffnet und wiesen nach oben. Sie hielten keine Waffe.
Mythor entspannte sich ein wenig, aber er blieb noch immer aufmerksam. Er hielt Alton weiterhin stoßbereit.
Die Arme der Gestalt wanderten nach oben. Ihre Hände ergriffen den Rand der Kapuze und schlugen sie zurück.
Im unsicheren Licht der flackernden Fackeln sah Mythor das Gesicht einer Frau. Es kam ihm sofort bekannt vor, er hatte sie schon einmal gesehen. Es war die Frau, die er mit ihrem Kind in einer der Fischerhütten entdeckt und gerettet hatte. »Erkennst du mich wieder?« fragte sie.
Mythor nickte wortlos. Er schob das Schwert zurück in den Gürtel.
»Du hast mein Leben und das meines Kindes gerettet«, flüsterte die Frau weiter. »Jetzt kann ich dir einen Gefallen tun.«
Wieder sah sie sich gehetzt um, um versteckte Lauscher oder Beobachter frühzeitig zu erkennen. Mythor ahnte, dass sie viel riskierte.
»Ich weiß, dass du zu Sklutur willst. Deshalb sollst du wissen, dass es jemanden gibt, der das Recht hat, den Mammutfriedhof zu betreten. Aber wir müssen vorsichtig sein, Jenersen lässt dich überwachen. Er fürchtet, dass du trotz des Verbotes versuchen willst, in den Friedhof einzudringen.«
»Ich weiß«, sagte Mythor. »Ich habe die Bewacher bereits gesehen.«
»Zur Zeit glauben die Wachen, dass du fest schläfst, und sind unaufmerksam. Sie sitzen weit draußen auf den Stegen und trinken Tranwein. Wir haben etwas Zeit.«
»Erzähl mir, was du weißt«, drängte Mythor.
»In dieser Hütte dort wohnt Sanderholm«, erklärte die Frau und deutete auf ein verfallenes Gebäude am Ende der Gasse. »Er ist ein Greis, niemand weiß, wie alt er wirklich ist. Solange irgendjemand auch nur zurückdenken kann, wohnt er schon in Urguth. Er beteiligt sich nicht am gemeinsamen Fischfang und lebt für sich allein. Er spricht nie, er ist stumm. Wir nennen ihn den Schlafenden Fischer, weil er immer schlafend in seiner Hütte liegt. Tag für Tag und Nacht für Nacht schläft er fest. Nur manchmal wacht er auf. Dann nimmt er ein wenig Nahrung zu sich und verschwindet im Mammutfriedhof. Es heißt, er besucht Sklutur. Man sagt, dass er von dem Beinernen immer von neuem die Kraft der Jugend erhält, denn wenn er zurückkehrt, scheint er gestärkt und verjüngt.«
»Du meinst, Sanderholm kann uns führen?« fragte Mythor.
»Wenn du den Beinernen finden willst, brauchst du die Hilfe des Schlafenden Fischers«, sagte die Frau. »Niemand außer ihm hat jemals den Mammutfriedhof lebend verlassen!«
Die Frau zog die Kapuze wieder über ihren Kopf und verbarg ihr Gesicht hinter dem dunklen Tuch. »Ich muss gehen«, flüsterte sie. »Jenersen darf nicht erfahren, dass ich mit dir geredet habe.«
»Ich werde schweigen«, versprach Mythor.
In der verfallenen Hütte
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