Der Mann aus dem Safe
nicht?«
Er öffnete die Hand wie ein Zauberkünstler, der seinem Publikum zeigt, dass sie leer ist.
»Das ist der Moment, mein junger Heißsporn, wo die
Kunst
ins Spiel kommt. Bist du dafür bereit?«
Ich nickte. Einmal und mit Bedacht.
Er sah mich lange schweigend an.
»Du musst dir ganz sicher sein«, sagte er dann. »Und ich auch.«
Ich bewegte mich nicht. Ich wartete darauf, dass er seine Entscheidung traf.
»Also gut. Pass auf. So öffnet ein wahrer Künstler einen Safe.«
Also, es gibt da so einen bestimmten Ehrenkodex, gegen den ich hier wahrscheinlich verstoße. Der Ghost hat dieses Wissen an mich weitergegeben und deutlich gemacht, dass ich es für mich zu behalten habe. Dass es unter Künstlerkollegen bleiben muss. Eines Tages vielleicht, wenn ich die richtige Person fand, würde ich es selbst weitergeben können, aber nur an diese eine Person. Die ich sehr sorgfältig auswählen würde. Die eine solche Bürde tragen konnte. Denn man sieht ja, was sie mit mir gemacht hat. Welchen Preis dieses unverzeihliche Talent hat.
Aber mal im Ernst – ich könnte Ihnen sowieso nicht einfach sagen, wie es geht. Ich meine, ich habe Ihnen ja schon eine ungefähre Vorstellung gegeben. Sie haben mir dabei zugesehen, stimmt’s? Zuerst die Voreinstellungen ausschließen, denn es besteht immer eine geringe Chance, dass der Besitzer zu faul war, sie zu ändern.
Danach wird es knifflig. Wenn man die Nummernscheibe dreht, muss man sich die Nut in der Antriebsscheibe dahinter vorstellen. Man muss fühlen, wo der Hebel die eine Seite der Einkerbung berührt, und dann, durch ganz leichtes Weiterdrehen, wo er an der anderen Seite anstößt. Dann hat man den »Kontaktbereich«.
Falls man nicht schon weiß, wie viele Räder oder Sperrscheiben das Schloss hat, dreht man die Nummernscheibe ein paarmal und parkt alle Räder auf der entgegengesetzten Seite vom Kontaktbereich. Dann dreht man in die andere Richtung und zählt, wie oft die kleinen Antriebsnocken an den Rädern ein weiteres Rad mitnehmen. So viele Zahlen hat die Kombination.
Bis hierhin könnte ich Ihnen den Vorgang wohl innerhalb von ein paar Minuten zeigen. Den nächsten Teil kann ich Ihnen zwar beschreiben, doch es ist unmöglich, Ihnen praktisch vorzuführen, wie es geht. Man kann es entweder oder nicht. Den meisten Menschen gelingt es bei den meisten Safes nicht.
Man stellt alle Räder auf Null und dreht wieder zurück zum Kontaktbereich. Man »misst«, wie groß dieser Bereich, also der Abstand zwischen den Kontaktpunkten, ist. Er wird jedes Mal ein Tickchen anders sein, wenn man dorthin dreht. Und wo eines der Räder eine Nut hat, bei einer bestimmten Zahl, wird der Spielraum ein klein wenig geringer sein. Nach Auskunft des Ghost tragen die meisten Safeknacker den Spielraum bei den jeweiligen Zahlen in ein kleines Diagramm ein, aber wenn man ein gutes Gedächtnis hat, kann man sich das auch so merken. Zurückdrehen und auf 3 stellen. Wieder messen, tasten. Dann auf 6 und so weiter. Das dauert ein Weilchen. Die meisten Nummernscheiben gehen bis 100 .
Wenn man damit durch ist, hat man die Zahlen mit den kürzeren Kontaktbereichen, und die entsprechen plus minus eins den Zahlen der Kombination. Man muss den Bereich noch mal nachmessen, um die exakten Zahlen zu ermitteln. Wenn man sich zum Beispiel die 33 gemerkt hat, misst man bei 32 und 34 , bis man sicher ist.
Der letzte Teil ist weitere Routinearbeit, weil man zwar nun die einzelnen Zahlen kennt, aber noch nicht die richtige Reihenfolge. Bei drei Zahlen gibt es sechs mögliche Kombinationen, bei vier hat man vierundzwanzig Möglichkeiten, bei fünf sind es hundertzwanzig und bei sieben siebenhundertzwanzig. Das sind zwar verdammt viele, aber wenn man ein bisschen Übung hat, ist es nicht so schlimm. Außerdem muss man in den meisten Fällen nicht alle durchprobieren. Mit etwas Glück trifft man die richtige Kombination gleich zu Anfang.
Wenn man bedenkt, wie sauer der Ghost geworden war, als er sah, wie ich mich durch die Zahlen an dem kleinen Vorhängeschloss ackerte, hat es eine gewisse Ironie, dass einem bei einem großen Safe gar nichts anderes übrigbleibt, als eine Kombinationsmöglichkeit nach der anderen einzustellen.
So funktioniert es im Wesentlichen. Das Problem ist, je besser der Safe, desto leiser die Mechanik des Schlosses. Sich durch die Kontaktpunkte zu tasten, das erfordert schon ein ganz besonderes Fingerspitzengefühl. Davon redete der Ghost, wenn er sagte, man muss den Safe
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