Der Mann aus dem Safe
zärtlich berühren wie eine Frau, aufmerksam sein, die leiseste Regung im Innern spüren. Und dieses Feingefühl hatte ich noch nicht. Egal wie sehr ich die singenden Stimmen in meinem Kopf unterdrückte, egal wie eng ich mich an den Safe schmiegte, die Wange an dem kühlen Stahl, die rechte Hand an der Nummernscheibe … Ich drehte sie und spürte nur ganz grob, wie der Hebel die Kontaktpunkte berührte. Er ging die ganze Prozedur sieben- oder achtmal mit mir durch und ließ es mich dann selbst versuchen. Er gab mir sogar die Zahlen, damit ich wusste, wo die Stellen waren. Ich stellte die 17 ein, ertastete die erste Berührung, die Leere dazwischen, die zweite Berührung. Ja, jetzt hab ich’s. Genau da. Jetzt zur 25 . Es sollte sich anders anfühlen. Spür den ersten Punkt, den zweiten. Merkst du den Unterschied? Kannst du ihn fühlen?
Nein, ich fühlte es nicht. Nicht an diesem ersten Tag.
Er gab mir wieder Hausaufgaben, ein Safeschloss, das ich mitnehmen sollte. Eine richtige Nummernscheibe mit einem Satz Rädern. Es war nicht größer als mein erstes Schloss und wog höchstens zwei oder drei Pfund. Ich konnte es überall mit hinnehmen und jederzeit die grundlegende Methode üben. Das war zwar nicht das Gleiche, wie an einem echten Safe zu arbeiten, aber für den Anfang reichte es.
Also übte ich. Den ganzen Tag. Die halbe Nacht. In jedem wachen Moment. Solange Amelia fort war – was sollte ich schon anderes tun?
Ich fühlte es immer noch nicht. Nicht mal annähernd.
Als ich am nächsten Tag wiederkam, war doch tatsächlich ein Kunde im Laden. Ich hatte inzwischen begriffen, dass der Ghost den Schuppen mit Absicht so wenig einladend wie möglich gestaltet hatte. Immer schön dunkel, den schlimmsten Schrott vorne am Eingang, und wenn sich doch jemand hereintraute, war er so charmant zu ihm wie zu mir die meiste Zeit über. Wollte jemand trotzdem etwas kaufen, dachte er sich irgendeinen Mondpreis aus und ließ sich um keinen Penny herunterhandeln. Offensichtlich war der Verkauf von Altwaren an Laufkundschaft nicht der wirkliche Grund für die Existenz dieses Geschäfts.
Nachdem er den Kunden verscheucht hatte, führte mich der Ghost zurück zu den Safes und ging das Verfahren erneut mit mir durch. Auch wenn das eigentlich nicht nötig war. Ich wusste mittlerweile sehr gut, wie es theoretisch funktionierte, nur mit der Praxis haperte es noch.
»Hast du mit dem Schloss geübt, das ich dir mitgegeben habe?«
Ich nickte.
»Hast du es aufbekommen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Setz dich hin. Üb weiter.«
Das tat ich. Während der nächsten Stunden tat ich nichts anderes, als an den Scheiben herumzudrehen. Ich ging von Safe zu Safe in der Hoffnung, auf einen zu stoßen, der sich ein bisschen leichter anfühlte. Ich drehte und lauschte und versuchte, die Kontaktpunkte zu spüren. Um vier Uhr nachmittags war ich schweißgebadet und hatte Kopfschmerzen. Der Ghost sah nach mir und brauchte gar nicht zu fragen, wie ich vorangekommen war. Er schickte mich nach Hause und trug mir auf, weiter mit dem tragbaren Schloss zu arbeiten. Und am nächsten Tag etwas früher zu erscheinen.
Am nächsten Tag war ich wieder zur Stelle. Weiter im Trott, drehen, probieren bis zur Erschöpfung, damit Amelia nach Hause kommen konnte.
Am Tag darauf wieder. Drehen, fühlen, mit dem Übungsschloss nach Hause gehen und weiter drehen.
Am Tag danach musste ich eine Pause einlegen, um einen Termin mit meinem Bewährungshelfer wahrzunehmen. Er sah ein bisschen müde und überarbeitet aus, und ich hatte keine Ahnung, was er von mir wollte, als er mich in seinem Büro Platz nehmen ließ.
»Ich habe heute Morgen mit Mr. Marsh gesprochen«, begann er.
Das könnte interessant werden, dachte ich.
»Er sagt, du machst dich weiterhin gut und arbeitest fleißig – in Haus und Garten und jetzt auch im Fitnesscenter? Er lässt dich im Fitnesscenter arbeiten? Er hat dich zum Mädchen für alles gemacht, was?«
Ich nickte. Oh ja, für alles.
»Wie geht es mit dem Teich voran?«
Ich zuckte die Achseln. Geht so.
»Ich bin schon gespannt darauf, wenn er fertig ist.«
Ja, Mann, ich auch.
»Gut, wir sollten mal darüber reden, wie es weitergeht, wenn du deine Arbeitsstunden bei ihm abgeleistet hast. Du hast dann immer noch rund zehn Monate Bewährung, was bedeutet, dass ich die Lehrer an deiner Schule informieren werde. Du weißt, dass lückenlose Teilnahme am Unterricht zu deinen Auflagen gehört?«
Ich nickte. Ja, sicher.
»Sehr
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